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Arnold Schering: Beiträge zur Bachkritik

nun ganz richtig, daß es töricht wäre, gewisse unter Bachs Namen überlieferte Kompositionen, denen irgendein technischer oder logischer Mangel anhaftet, in einer Zeit entstanden zu denken, da Bach bereits Mustergiltiges und in höchstem Maße Bewundernswertes geschaffen. Der bisherigen Bachforschung sind allerdings Schöpfungen nicht entgangen, in denen Ungleichheit der Diktion, Rückschrittlichkeit der Formbehandlung oder andere sog. nicht-Bachische Züge auffielen (vgl. den Streit um die Lukaspassion). Aber nicht konsequent genug, in solchen Fällen Zweifel an der Echtheit auszusprechen, selbst wenn die Niederschrift autograph war, glaubte sie die Mängel durch reichlich frühe Datierung entschuldigen zu müssen, wie es z. B. bei den Kantaten „Uns ist ein Kind geboren“, „Das ist je gewißlich wahr“ und einigen Orgelwerken geschah. Hiermit wurde Bach aber kein Dienst erwiesen. Denn der Scheingrund früher, ja frühester Entstehung zog nunmehr die Notwendigkeit nach, sich mit der Kunstweise eben dieses jüngeren Bach befriedigend auseinanderzusetzen, was keineswegs immer gelingen wollte und Spitta zu mancher unbegründeten Annahme zwang. Solche Frühdatierungen wären nur dann mit Recht auf Wahrscheinlichkeit zu unternehmen gewesen, wenn genug unzweifelhaft beglaubigte und ihrer Entstehung nach bekannte Werke aus Bachs Jugendzeit in chronologischer Folge erhalten wären. Der Grad ihrer Vollendung oder Mangelhaftigkeit hätte dann Wegweiser sein können. Schreyer betont an der Hand einiger weniger Frühwerke, daß Bach sich schon als Jüngling musterhafter, klarer Periodenbildung befleißigte und hinsichtlich der Fuge Prinzipien folgte, die er auch später nicht wieder aufgegeben hat. Er glaubt das Recht zu haben, alle Schöpfungen, die diese untadeligen Grundsätze verletzen, als Originale Bachs zu verleugnen.

Wollen wir ernsthaft zu einer neuen kritischen Revision des Bachschen Lebenswerks schreiten, so muß mit dieser Methode gerechnet werden. Dennoch kann sie vorläufig nicht anders als mit größter Vorsicht angewandt werden, nicht weil sie alle Ausnahmen leugnet, sondern weil der Boden, auf dem sie erwächst, noch schwankend, noch unsicher ist. Beweise dafür

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Arnold Schering: Beiträge zur Bachkritik. Breitkopf & Härtel, Leipzig [u. a.] 1912, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schering_Bachkritik_1912.pdf/3&oldid=- (Version vom 2.10.2022)