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Autor: Arnold Schering
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Titel: Beiträge zur Bachkritik
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aus: Bach-Jahrbuch, 9. Jg. 1912, S. 124–133
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Breitkopf & Härtel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
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[124]
Beiträge zur Bachkritik.
Von Dr. Arnold Schering (Leipzig).

Unter den im vergangenen Jahre erschienenen Schriften und Aufsätzen über Bach und seine Kunst verdient das zweite Heft der „Beiträge zur Bach-Kritik“ von Joh. Schreyer (Leipzig, C. Merseburger) besondere Berücksichtigung. Einmal des Stoffes wegen, durch den das Schriftchen in den engsten Interessenkreis der Neuen Bachgesellschaft tritt, dann auch wegen der Art und Weise seiner Behandlung. Der Verfasser setzt hier seine kritischen Gänge, die er vor zwei Jahren begonnen (vgl. Bach-Jahrbuch 1910, S. 165), fort. Wiederum ist sein Hauptziel, Werke, die sich unter Bachs Namen in die große Gesamtausgabe oder in spätere Editionen eingeschlichen, als unecht nachzuweisen und damit Bachs Lebenswerk von Schlacken zu reinigen, – ein schönes und dankenswertes Beginnen, das zu unausgesetzter Mitarbeit auffordert.

Um zunächst über Schreyers Resultate im allgemeinen zu orientieren, seien die strittigen Punkte seiner Abhandlung, so wie er sie selbst formuliert, angemerkt. Es handelt sich um nichts geringeres als um eine Ablehnung des „neunten Teils“ der in die Bachausgabe aufgenommenen Werke.

1. (S. 3–8). Hat Bach Kompositionen von Reinken und Albinoni für Klavier bearbeitet? (Resultat: Nein. Die Bearbeitungen widersprechen Bachscher Art.)

2. (S. 8–23). Hat Bach Violinkonzerte Vivaldis für Klavier bearbeitet? (Resultat: Nein.)

3. (S. 24–31). Bachs Verhältnis zu Vivaldi im Lichte der Kritik. (Resultat: Bach hat mit Vivaldi nichts zu schaffen gehabt).

[125] 4. (S. 31–38). Spitta über die Doppelfuge. – Hat Bach Fugen in dreiteiliger Liedform geschrieben? (Resultat: Ablehnung Spittascher Analysen. Die dreiteilige Liedform ist von der Fugenkomposition ausgeschlossen.)

5. (S. 39–40). Die Konzerte für drei Klaviere in Cdur und dmoll. (Resultat: Die Echtheit ist stark anzuzweifeln.)

6. (S. 41–44). Das dmoll-Konzert für Klavier mit Streichorchester. (Resultat: Enthält Merkmale, die Bachs Autorschaft verleugnen.)

7. (S. 44–50). Unechte Kantaten. (Betrifft die Kantaten Nr. 141, 142, 144 des 30. Jahrgangs und „Non sa che sia dolore“ im 29. Jahrgang.)

8. (S. 51–64). Unechte Kompositionen in der Petersschen Ausgabe der Werke J. S. Bachs. (Betrifft namentlich den Supplementband der Klavierwerke und den 9. Band der Orgelkompositionen, herausgegeben von M. Seiffert).

9. (S. 64–70). Unechte Kompositionen in der Steingräberschen Ausgabe der Klavierwerke J. S. Bachs. (Betrifft H. Bischoffs Ausgaben).

Die Methode Schreyers ist die von früher her bekannte. Er geht angeblichen oder wirklichen Abnormitäten der Periodenbildung und Satztechnik nach, zieht „unbachische“ Stilwendungen hervor und sucht die Ergebnisse fleißiger Quintenjagd mit „vorurteilsloser“ Prüfung des Gesamteindrucks zu verbinden. Eine untadelige Methode, sobald sie untadelig angewendet wird! Schreyer hat mit ihrer Hilfe tatsächlich eine Reihe von Zweifeln beseitigt und dem Richtigen Bahn gebrochen, insbesondere dort, wo satztechnische Absonderlichkeiten gegen die Autorschaft Bachs sprechen. Denn das ist wohl einmal sicher, daß Bach nicht nur früh die Elemente des Satzes spielend beherrschte, sondern als ein von der Natur Auserwählter ebenso früh auch die immanenten Gesetze der musikalischen Logik und Gedankenentwickelung unbewußt mit allergrößter Strenge befolgte. Ein solches Künstlerphänomen ist nicht anders als frühreif zu denken, was auch wirklich durch eine Anzahl von Orgel-, Klavier- und Kantatenschöpfungen seiner ersten Periode belegt wird. Schreyer schließt [126] nun ganz richtig, daß es töricht wäre, gewisse unter Bachs Namen überlieferte Kompositionen, denen irgendein technischer oder logischer Mangel anhaftet, in einer Zeit entstanden zu denken, da Bach bereits Mustergiltiges und in höchstem Maße Bewundernswertes geschaffen. Der bisherigen Bachforschung sind allerdings Schöpfungen nicht entgangen, in denen Ungleichheit der Diktion, Rückschrittlichkeit der Formbehandlung oder andere sog. nicht-Bachische Züge auffielen (vgl. den Streit um die Lukaspassion). Aber nicht konsequent genug, in solchen Fällen Zweifel an der Echtheit auszusprechen, selbst wenn die Niederschrift autograph war, glaubte sie die Mängel durch reichlich frühe Datierung entschuldigen zu müssen, wie es z. B. bei den Kantaten „Uns ist ein Kind geboren“, „Das ist je gewißlich wahr“ und einigen Orgelwerken geschah. Hiermit wurde Bach aber kein Dienst erwiesen. Denn der Scheingrund früher, ja frühester Entstehung zog nunmehr die Notwendigkeit nach, sich mit der Kunstweise eben dieses jüngeren Bach befriedigend auseinanderzusetzen, was keineswegs immer gelingen wollte und Spitta zu mancher unbegründeten Annahme zwang. Solche Frühdatierungen wären nur dann mit Recht auf Wahrscheinlichkeit zu unternehmen gewesen, wenn genug unzweifelhaft beglaubigte und ihrer Entstehung nach bekannte Werke aus Bachs Jugendzeit in chronologischer Folge erhalten wären. Der Grad ihrer Vollendung oder Mangelhaftigkeit hätte dann Wegweiser sein können. Schreyer betont an der Hand einiger weniger Frühwerke, daß Bach sich schon als Jüngling musterhafter, klarer Periodenbildung befleißigte und hinsichtlich der Fuge Prinzipien folgte, die er auch später nicht wieder aufgegeben hat. Er glaubt das Recht zu haben, alle Schöpfungen, die diese untadeligen Grundsätze verletzen, als Originale Bachs zu verleugnen.

Wollen wir ernsthaft zu einer neuen kritischen Revision des Bachschen Lebenswerks schreiten, so muß mit dieser Methode gerechnet werden. Dennoch kann sie vorläufig nicht anders als mit größter Vorsicht angewandt werden, nicht weil sie alle Ausnahmen leugnet, sondern weil der Boden, auf dem sie erwächst, noch schwankend, noch unsicher ist. Beweise dafür [127] liefert Schreyers Abhandlung. Abgesehen davon, daß sie mehr den Eindruck von zusammengeschweißten Taschenbuchnotizen als den einer in allen Teilen wohlfundierten wissenschaftlichen Abhandlung macht, enthält sie eine ziemliche Anzahl von unvorsichtigen, mangelhaft belegten, ja falschen Behauptungen. Referent stimmt – um es gleich herauszusagen – mit einem großen Teil der Schlußresultate Schreyers überein, ohne überall die Art zu billigen, mit der sie gewonnen sind. Die Methode ist zuweilen überspannt und fordert in ihren Ergebnissen zum Mißtrauen heraus. Einer der krassesten Fälle ist folgender. Da hat Bach ein gewisses Klavierkonzert in dmoll geschrieben, eine Komposition, vor der sich nun bald vier Generationen bewundernd gebeugt haben. Schreyer stößt es aus Bachs Lebenswerk aus. Grund: er hat auf S. 4 und 7 (Bd. 17 der B.-A.) einige „offene Oktaven“ gefunden[1]. Damit ist nicht nur der erste, sondern auch der zweite und dritte Satz, die beide gar nicht berücksichtigt werden, abgetan, als handle es sich um den Schmarren eines Winkelkomponisten. Zweiter „Grund“: es sei auffällig, daß Bach dieses Konzert, das „sich weder durch Reichtum und Originalität der Gedanken, noch durch ihre Verarbeitung auszeichnet“, viermal bearbeitet haben sollte. Auffällig wäre das nur, wenn man Schreyers absprechendes Urteil über den Wert des Stückes teilt; tut man es nicht – und das hängt vom Einzelnen ab und von seiner Art, Bach zu betrachten –, so entfällt dieser Grund. Einsichtsvoller, weil auf konkrete Dinge, nämlich auf den Nachweis harmonischer Absurditäten gestützt, ist seine Ablehnung der Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“, deren erster Chor in den Mittelsatz des Konzerts eingearbeitet ist. Diese Musik mutet freilich nicht Bachisch an, und zwar, weil sie fehlerhaft und unschön, also in einer Fassung gegeben ist, die sich einem Für oder Wider entzieht und auch mit der bekannten Bachschen Kühnheit in harmonischen Dingen nicht kurzerhand erklärt werden kann. Aber Schreyer ist voreilig, wenn er die Mängel [128] dieser Bearbeitung, die Bach vielleicht irgendeinem Schüler aufgetragen haben mag, und von der eine Aufführung in Leipzig überhaupt nicht feststeht, – wenn er die Mängel dieser Bearbeitung zur Verdammung des Originals für Klavier heranzieht. Da müßte doch erst nachgesonnen werden, wer unter Bachs Zeitgenossen vor 1730(!) überhaupt fähig war, ein solches Klavierkonzert „im Bachschen Stile“ zu schreiben. Schreyer teilt vielleicht in einem dritten Heft der „Beiträge“ seine von uns ungeduldig erwarteten Nachforschungen hierüber mit.

Um bei den Konzerten zu bleiben: Schreyer spricht auch die beiden Konzerte in Cdur und dmoll für drei Klaviere Bach ab. Seine gegen die formale Anlage des ersten Satzes des Cdur-Konzerts vorgebrachten Gründe lassen sich hören, dagegen hat er scheinbar nicht bemerkt, daß der Mittelsatz auf einen Basso ostinato gebaut ist, geht auch ohne ein einziges Wort über den Schlußsatz hinweg. Noch fadenscheiniger sind seine Argumente gegen das dmoll-Konzert. Denn gerade die Unisoni der drei Klaviere im zweiten Satz, die ihm unbachisch dünken, wollen gar nichts besagen: es sind Tuttiphrasen, bei denen es den Solisten (wie andere Konzertmanuskripte aus der Bachschen Zeit zeigen) freistand, mitzuspielen oder nicht. Es käme darauf an, festzustellen, ob in der originalen Partiturvorlage tatsächlich alle drei Solostimmen ausgeschrieben sind. Dennoch teile ich Schreyers Gedanken der Unechtheit und glaube annehmen zu dürfen, daß es sich in beiden Fällen lediglich um Bearbeitungen aus Bachs Hand handelt, nicht aber um Originale. Bachs Meisterhand ist nicht zu verkennen, und es scheint, daß sie hier ebenso machtvoll gestaltend eingegriffen hat, wie bei der Bearbeitung des ehemals Friedemann zugeschriebenen Orgelkonzerts in dmoll. Was Schreyer gegen den ersten Satz des Cdur-Konzerts vorbringt: unproportionierte Anlage, ungewöhnliche Themenaufstellung, Modulationsplan, glaube ich ergänzen zu müssen durch den Hinweis, daß sowohl die Thematik wie die Themendurchführung den Mustern entspricht, die man in Torellis und Vivaldis Konzerten zu finden gewohnt ist. Die Art, wie [129] bei Bach die Solopartien der drei Klaviere behandelt sind, weist direkt auf ein Konzert für drei Violinen mit Begleitung. Die Soli dieser scheinen ziemlich originalgetreu in die Oberstimmen der drei Klaviere übergegangen zu sein; denn nicht nur gehen diese Klaviersoli auffälligerweise nie unter das der Violine noch erreichbare g, sondern auch spezifisch violintechnische Eigenheiten sind konserviert. Am augenfälligsten tritt das auf S. 74 (Bd. 31 der B.-A.) hervor: hier bringen die drei Soloinstrumente in der Oberstimme drei selbständige Melodien – solche nämlich, wie sie bequem und ausdrucksvoll von drei Violinen ausgeführt werden können –, während die linken Hände der drei Spieler dazu dieselbe(!) Baßbegleitung haben. Bach konnte in der Tat keinen andern Ausweg ergreifen, wenn er die drei Violinsoli nicht umkomponieren wollte, als diesen; bei einem Originalkonzert wäre ihm das nicht in den Sinn gekommen. Noch deutlicher zeigt der zweite Satz das ursprüngliche Violinkonzertino, und auch der letzte Satz verleugnet es nicht. – Nun finde ich freilich weder unter Torellis, noch unter Vivaldis und Albinonis gedruckten wie handschriftlichen Konzerten das Original. Mir scheint auch – wegen des Ostinato im Adagio – keiner von diesen in Betracht zu kommen, sondern eher ein deutscher, d. h. italienisch beeinflußter Meister. Höchstens etwa Benedetto Marcello, dessen feine Arbeit und ausdrucksvolle Melodik sich von der der obengenannten zuweilen merklich abhebt. In allen drei Sätzen, so wird man voraussetzen dürfen, hat Bach bei der Bearbeitung Auszierungen, Melismen, Passagen eingefügt, auch wohl hier und da umformend eingegriffen [2].

Mit dem dmoll-Konzert für zwei Klaviere hat es wohl dieselbe Bewandtnis. Hier genügen aber Schreyers Worte, [130] wie erwähnt, noch weniger. Wahrscheinlich ist auch dies die Bearbeitung eines Tripelkonzerts fremder Erfindung, diesmal aber, wie mich dünkt, nicht für drei Violinen, sondern für Violine, Flöte und ein fragliches Instrument (Oboe?). Darauf deutet die starke Bevorzugung der unausgesetzt konzertierenden ersten Partie vor den beiden anderen, sichtlich weniger anstrengend geführten. In diesem Falle würde der Komponist nicht unter den Italienern, sondern unter den Deutschen zu suchen sein, die solche Zusammenstellungen liebten (Telemann, Heinichen, Hurlebusch?). Das Hauptthema des ersten Satzes mit seinen Figuren im lombardischen Geschmack, das ungeschickt aufgebaute Siciliano mit der mangelnden Polyphonie, die Violinfiguration des letzten Satzes darf man als nicht bachisch ansprechen, wohl aber auch hier Bach als Bearbeiter – etwa im Dienste seines Collegium musicum – gelten lassen.

In hellen Zorn hat Schreyer die Tatsache versetzt, daß man die bekannten Vivaldi-Klavierbearbeitungen noch immer für Bachsche Erzeugnisse hält. Dabei ist eins verwunderlich: daß er selbst 20 und mehr Jahre Bachstudiums gebraucht hat, um zu der Einsicht zu kommen, hier liege ein Irrtum vor. Gerade hier aber, wo der Verfasser am bescheidensten hätte sein sollen, wird seine Kritik anmaßend. Wie er Spitta und andere mit herausgerissenen Sätzen zitiert, um – Post nubila Phoebus! – blendende Antithesen daraus zu entwickeln, berührt wenig sympathisch und ist nicht vornehm. Abgesehen davon, gehe ich auch hier ein ziemliches Stück mit Schreyer und glaube, daß einzelne der Konzerte (wenn auch wegen mangelnder Anzeichen nicht alle) als Schülerwerke aufzufassen sind. Aber die vollkommene Unschuld, mit der der Verfasser über eine historische Größe wie Vivaldi zu Gericht sitzt, dürfte so bald nicht überboten werden. Statt sich zu unterrichten, was es mit Vivaldi überhaupt auf sich hat, wer dieser Mann war, der um 1714 das ganze musizierende Europa in Aufregung und Entzücken versetzte, was er geschaffen und worin seine Bedeutung lag, – statt dessen zitiert Schreyer ein paar oberflächliche Worte der beiden Engländer Hawkins und Burney [131] und glaubt, mit der Kenntnis von zwei, drei Originalen des Meisters genug zu haben, ihn unter die Pfuscher zu werfen und zu behaupten, Bach habe niemals mit ihm zu tun gehabt. Die alte Forkelsche, auch noch von Spitta adoptierte Legende, Bach habe an Vivaldis Konzerten „Klarheit und Plan im Aufbau“ lernen wollen, wird mit Behaglichkeit nochmals aufgetischt, obwohl schon vor Jahren die Ansicht geäußert wurde, daß solche Klavierbearbeitungen im Weimarer Kreise lediglich zum Zeitvertreib, gleichsam als ergötzliche „Klavierauszüge“ der berühmten Stücke angefertigt wurden[3]. Verkehrte und richtige Urteile stoßen sich in diesem Kapitel und können zu weiter nichts als zu einer erneuten, von Schreyer unabhängigen Prüfung der Verhältnisse anregen.

Sehr radikal geht der Verfasser ferner im Gebiet der Orgel- und Klavierwerke vor. Eine ganze Anzahl Stücke, namentlich in der Orgelmusik, an denen bisher so mancher Spieler gehangen hat, werden unbarmherzig ausgestoßen. Ein besonderes Bändchen wäre nötig, sollte auf eine Kritik seiner Kritik eingegangen werden. Hier kann nicht einer, hier müssen viele angreifen. Um das zu befördern, mögen wenigstens die nach Schreyers Ansicht unechten Orgelstücke kurz angeführt sein (nach der Petersschen Ausgabe): Bd. II, Nr. 1, 2, 3, 5; Bd. III, Nr. 9, 10; Bd. IV, Nr. 1, 2, 5; Bd. VIII, vier Konzerte, acht kleine Präludien und Fugen; Präludium Gdur, Fuge gmoll; Bd. IX, Fantasie und Fuge amoll; Fugen Gdur Nr. 2; 4; Cdur; Konzert Gdur; Choralbearbeitungen „Aus der Tiefe“, „Ach Gott vom Himmel“. Noch reichlicher sind die Ausscheidungen in der Klaviermusik, geringer die in der Kammermusik (die vier Flötensonaten, Fuge gmoll für Violine [132] und Klavier, die 6. Violinsonate). Gerade hier wird sich der Kampf der Meinungen voraussichtlich heftig entwickeln, und Schreyer zu festeren, strengeren Formulierungen gezwungen werden. Seine Feststellungen streifen hier ans Schrullenhafte. Man vergleiche, was er schon im ersten Heft seiner „Beiträge“ über die sechste Violinsonate sagt. Die Gründe der Ablehnung als Original sind folgende: Die Sonate hat fünf Sätze; sie hat ferner einen Mittelsatz für Cembalo allein; ein Autograph ist nicht vorhanden! Drei prächtige Gründe! Und welche prächtige Methode, den Stil Bachs zu kritisieren! Die ganze herzliche Innigkeit des Largos, die fein stilisierte Wehmut des Klaviersolos, das prachtvolle, echt bachische Wechselspiel der Instrumente im Adagio, der Schwung des letzten Satzes, – das alles existiert für Schreyer nicht. Er übersieht, daß die Courante und die Gavotte im ersten Teil der „Klavierübung“ (Part. 6) mit Sätzen der 2. Bearbeitung dieser Sonate in Verwandtschaft stehen; er ist auch nicht auf den Gedanken gekommen, sich das ominöse da Capo, dem er so viel Wert beilegt, zu erklären oder die auffällige Satzzahl aus den Widersprüchen der vier handschriftlichen Überlieferungen herzuleiten. Dafür stehen boshafte Ausfälle gegen Spitta. Mit welcher Vorsicht man ihm trotz aller keck hingesetzten Urteile selbst auf dem ihm eigensten Gebiete, der Formenlehre, folgen muß, zeigt u. a. die Behauptung (II, S. 55), in der amoll-Fuge für Orgel (Peters Bd. 9) schweige während der zweiten Hälfte das Thema vollständig. Daraus wird der Komposition der Henkerstrick gedreht. Schreyer hat nicht bemerkt, daß die Fuge mit Takt 74 schließt, und daß das noch Folgende ein dem Präludium entsprechendes Postludium (Toccata) ist, in dem ein abermaliges Auftauchen des Fugenthemas sinnlos wäre. Trotz dieses Lapsus teile ich seinen Zweifel an der Echtheit.

Argumente endlich, denen man Berechtigung nicht versagen wird, die man sogar noch um einige wird vermehren dürfen, werden gegen die Kantaten Nr. 141, 142, 144, 146, 188 und die beiden italienischen „Amore traditore“ und „Non sa che sia dolore“ vorgebracht. „Amore traditore“ ist sicherlich ein Stück wertvoller Musik, aber nicht von Bach; [133] das „Non sa“ weist auf italienischen Ursprung, da kein Grund für die Annahme vorliegt, Bach habe absichtlich seine Tonsprache verleugnet, um in italienischem Dialekt zu reden. Ausnahmsweise hat Schreyer hier seine Quintenmethode verlassen und ausschließlich innere Widersprüche geltend gemacht. Ich kann ihm nur Recht geben und glaube sogar, für die Kantate Nr. 142 „Uns ist ein Kind geboren“ Kuhnau als Verfasser in Anspruch nehmen zu dürfen (für den 1. Weihnachtsfeiertag 1720)[4]. Selbst an der Echtheit der von Schreyer nicht angefochtenen Kantate Nr. 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“ wird zu zweifeln sein, weniger aus inhaltlichen, als aus äußerlich formellen Ursachen. Es wird also in der Tat notwendig werden, auf Grund der kräftigen Initiative Schreyers abermals zunächst den Stil aller unzweifelhaft beglaubigten Kantaten Bachs von der frühesten Zeit an zu prüfen und alsdann die nicht seinen Namen und seine Handschrift zeigenden mit ihnen zu vergleichen. Erfolg aber würde eine solche Vergleichung auch nur dann haben, wenn zugleich die Arbeiten von Männern seiner nächsten Umgebung, Schüler mit eingeschlossen, herangezogen und auf ihre charakteristischen Ausdruckselemente hin untersucht würden. Was bei Schreyer noch unfertig ist, mühsam nach Ausdruck ringt und wegen Mangel an wissenschaftlicher Schulung zu Scheinbeweisen führt, müßte planmäßig zu einer Bach-Stilkritik ausgebaut werden, die freilich – wie unser Verfasser glaubt – ohne Berücksichtigung musikgeschichtlicher Fakta nicht auskommen könnte. Seine beiden „Beiträge“ sind ein merkwürdiges Gemisch von wertvollen Anregungen, einzelnen positiven Feststellungen und nach Form wie Inhalt abzulehnenden Beweisführungen.


  1. Er hätte übrigens noch viel auffälligere Quinten anführen können.
  2. Schreyers Argumente gegen die Echtheit dieses Konzerts sind inzwischen von A. Heuß (Zeitschr. der Intern. Musikges., XIV. Heft 6) aufs schärfste zurückgewiesen worden. Indessen scheint mir auch Heuß nicht den richtigen Weg gegangen zu sein, wenn er sich in den Nachweis „echt bachischer Themenverarbeitung“ vertieft. Eine solche wird auch Schreyer wohl nicht in Zweifel stellen. Die Frage ist vielmehr: Ist der Grundplan der Komposition, die Thematik, die Modulation Bachschem Geist entsprungen, oder ist nur die Art der Bearbeitung sein Eigentum. Die letzte Möglichkeit zieht Heuß nicht in Betracht.
  3. Im Feuereifer zitiert hier Schreyer auch falsch. Graf Waldersees Aufsatz in der Vierteljahrsschrift 1885 hat mit dem Nachweis, daß Bach auch andere als Vivaldische Violinkonzerte bearbeitete, nichts zu tun. Ferner: die Behauptung, der Bearbeiter (Bach) habe in keinem der 6 authentischen Konzerte Vivaldis am Aufbau der Komposition und an der Zahl der Takte etwas geändert, wird durch Stellen bei Waldersee (S. 372, 374: Ausstoßung eines Solos von 9½ Takten!) widerlegt, mithin als ein Zeichen der Unwissenschaftlichkeit gebrandmarkt. Der Aufsatz von C. Praetorius in Bd. VIII der Sammelbände der Int. Musikges. ist dem Verfasser entgangen.
  4. Gelegentlich hoffe ich darauf zurückzukommen.