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und unter hundert Reisern von Kernobst ging kaum eines aus. Auch hat man längst die mannigfaltigen Regeln der früheren Zeit für die Beschaffenheit der Pfropfreiser aufgegeben (jedes gesunde Reis ist gut, gleichviel wo und wie gebrochen, und selbst aus dem Fruchtholze kann man, wenn man andere Reiser nicht hat, wie ich öfters gethan habe, wenn andere Reiser fehlten, die triebigsten Stämme erziehen); verliert keine Zeit mehr mit dem öfteren Lösen der Bänder,[1] die man, wenn das Copulirreis 2–3 Zoll lang getrieben und das eingesetzte Auge 10–12 Tage gesessen hat, ohne Weiteres wegnimmt oder an der dem Reise entgegengesetzten Seite des Stammes durchschneidet, und das Copuliren insbesondere, wodurch man fast alle Obstsorten veredeln kann, geht so schnell und ist so leicht zu erlernen, daß es jeder gewöhnliche Landmann, der nur Lust dazu hat, gleich nachmacht, da nichts dazu gehört, als daß man am Wildling und Reise einen geraden Schnitt macht, und dieses an jenem fest anbindet. – Hier liegt also nicht die Ursache, warum der Landmann nicht mehr anpflanzt, sondern es mangelt noch häufig an Betriebsamkeit, oder es tritt hinderlich das Vorurtheil entgegen, daß die Obstbäume nicht genug einbrächten und dem Kornbau nur nachtheilig würden, und wenn die Kinder nicht etwa in einem Winkel des Gartens einige zusammengelesene Kerne oder von selbst aufgelaufene junge Stämme zusammentragen, so hat der Landmann auch keine Baumschule von Wildlingen. Sollte aber, wie Heusinger will, der Landmann an seinen Bäumen jeden Zweig erst ringeln, um von Wildlingen gute Früchte zu erhalten, so möchten dazu leicht mehr Zeit, mehr Kunst und mehr Instrumente erfordert werden, als zum Veredeln.

Doch wir wollen uns sogleich zu dem Hauptnachtheil wenden, den die Anzucht veredelter Bäume haben soll. Edelstämme sollen klein und schwach bleiben, wenig tragen, mancherlei Krankheiten unterworfen seyn und früh wieder eingehen; hingegen die durch das Aechtmachen nicht verkrüppelten Sämlinge, groß, wuchshaft, gesund, tragbar und alt werden, so daß sie selbst in ihrem Tode noch brauchbares Tischlerholz liefern. Ist dieß gegründet, so dürfen wir allerdings keine veredelten Stämme mehr anpflanzen, und wir müssen daher diese Beschuldigung völlig abzuweisen suchen.

Die Ursachen der an den Edelstämmen wahrgenommenen Mängel hat man, wie in der obigen geschichtlichen Relation gezeigt wurde, gesucht:

1) in der Operation des Veredelns, durch welche
a) dem Gewächse Theile genommen wurden, die zu seinem gehörigen Wachsthume nöthig seyen, und demselben eine empfindliche, fast tödtliche
  1. Manche nehmen zum Copuliren Papierstreifen, oder Stücke von etwas mürberem Cattuns, welche, wenn man etwas starke Wildlinge veredelt, durch das Reis im Fortwachsen von selbst gesprengt werden. Beim Oculiren ist das baldige Wegnehmen der Bänder sogar vortheilhaft; Augen, die nur oberflächlich angewachsen waren und nicht würden getrieben haben, verdorren dann bald und die, welche angegangen sind (und das sind bei geschickter Operation und recht saftreichen Wildlingen fast alle), wachsen um so freier und ungestörter in der nun am Wildlinge sich bildenden Rinde fest. Ich habe in Bardowick lange zwei Birnstämme, auf Quitte oculirt, gehabt, bei denen, durch Versehen eines Arbeiters, die Bänder schon drei Tage nach der Oculation weggenommen waren, und die im nächsten Frühlinge freudig austrieben. Bei Copulirreisern habe ich ohne Schaden das Band oft weggenommen, wenn die Augen nur erst wenige Linien geschoben haben.
  2. Empfohlene Zitierweise:
    Ed. Lucas, J. G. C. Oberdieck (Hrsg.): Monatsschrift für Pomologie und praktischen Obstbau I. Franz Köhler, Stuttgart 1855, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pomologische_Monatshefte_Heft_1_238.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)