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„Hieroglyphe“[1]. Und eine solche Hieroglyphe, ein solches Form- und Stilgesetz ist nicht nur in jeder besonderen Kunst, in der Musik, in der Malerei, in der Plastik verwirklicht, sondern sie beherrscht auch jede besondere Sprache und drückt ihr das geistige Siegel, das Gedankengepräge wie das Gefühlsgepräge auf. –

So wird hier die Betrachtung der Sprache in unmittelbare Berührung mit dem Zentralproblem gesetzt, das die gesamte Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts beherrscht. Im Begriff der Subjektivität selbst vollzieht sich jetzt dieselbe charakteristische Wandlung, die uns gleichzeitig in der Theorie der Kunst und des künstlerischen Schaffens entgegentritt. Aus der engen empiristisch-psychologischen Fassung der Subjektivität ringt sich immer deutlicher die tiefere und umfassendere Ansicht hervor, durch die sie aus der Sphäre des bloß zufälligen Daseins und des willkürlichen Tuns herausgehoben und in ihrer spezifisch geistigen „Form“, d. h. in ihrer spezifischen Notwendigkeit anerkannt wird. In der ästhetischen Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts faßt sich diese gesamte Bewegung allmählich immer bestimmter und bewußter in einem einzigen Mittelpunkt zusammen. Der Begriff des Genies wird zum sprachlichen und gedanklichen Träger für die neue Ansicht des Geistigen, die die Grenzen der empirisch-psychologischen, der bloß reflektierenden Betrachtung sprengt. In Diderots „Lettre sur les sourds et muets“ bildet der Geniebegriff, so wenig er hier explizit hervortritt, das belebende Prinzip aller sprachtheoretischen und kunsttheoretischen Einzelerörterungen und den ideellen Einheitspunkt, auf den sie hinzielen. Aber weit über dieses Einzelbeispiel hinaus läßt sich verfolgen, wie dieser Begriff von den verschiedensten Seiten her in die Sprachbetrachtung eindringt. Schon im England des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts ist die empirisch-psychologische Beschreibung und Erklärung geistiger Vorgänge, die sie in ihre einzelnen sinnlichen und materialen Faktoren aufzulösen sucht, keineswegs alleinherrschend, sondern es steht ihr eine andere Anschauung gegenüber, die auf die „Form“ dieser Vorgänge gerichtet ist und die diese Form in ihrer ursprünglichen und unzerlegbaren Ganzheit zu erfassen strebt. Ihren systematisch-philosophischen Mittelpunkt hat diese Anschauung im englischen Platonismus, bei Cudworth und den Denkern der Schule von Cambridge, gefunden; ihre vollendete literarische Darstellung hat sie bei Shaftesbury erreicht. Aller äußeren Bildung des sinnlichen Daseins – das ist die gemeinsame Grundüberzeugung Shaftesburys und des englischen Platonismus


  1. [1] Diderot, Lettre sur les sourds et muets (Oeuvres, ed. Naigeon, Paris 1798, II, 322 f.).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/99&oldid=- (Version vom 13.9.2022)