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Weise vollziehen können und müssen. Ist der Gehalt und Ausdruck des Begriffs nicht von der Materie der einzelnen sinnlichen Vorstellungen, sondern von der Form ihrer Verknüpfung abhängig, so stellt im Grunde jeder neue sprachliche Begriff eine neue geistige Schöpfung dar. Kein Begriff der einen Sprache ist daher schlechthin in den einer anderen „übertragbar“. Schon Locke besteht auf dieser Schlußfolgerung; schon er betont, daß, bei genauer Vergleichung verschiedener Sprachen, sich in ihnen fast niemals Worte finden werden, die einander völlig entsprechen und sich in der ganzen Sphäre ihres Sinnes miteinander vollkommen decken werden[1]. Damit aber ist von einer neuen Seite her das Problem einer schlechthin „allgemeinen“ Grammatik als Trugbild erwiesen. Immer schärfer erhebt sich die Forderung, statt einer solchen allgemeinen Grammatik vielmehr die besondere Stilistik jeder Einzelsprache zu suchen und sie in ihrer Eigentümlichkeit zu begreifen. Das Zentrum der Sprachbetrachtung wird damit von der Logik nicht nur nach der Seite der Psychologie, sondern nach der Ästhetik hin verschoben. Dies tritt besonders deutlich bei demjenigen Denker hervor, der wie kein anderer innerhalb des empiristischen Kreises, mit der Schärfe und Klarheit der logischen Analyse das lebendigste Gefühl für Individualität, für die feinsten Schattierungen und Nuancierungen des ästhetischen Ausdrucks verbindet. Diderot greift in seinem „Brief über die Taubstummen“ die Bemerkung Lockes auf; – aber was bei diesem ein vereinzeltes Aperçu gewesen war, das wird jetzt durch eine Fülle konkreter Beispiele aus dem Gebiet des sprachlichen und insbesondere des sprachkünstlerischen Ausdruckes belegt und in einem Stil dargestellt, der selbst der unmittelbare Beweis dafür ist, wie jede wahrhaft originale geistige Form sich die ihr gemäße Sprachform erschafft. Von einer ganz bestimmten stilistischen Einzelfrage, vom Problem der sprachlichen „Inversion“ ausgehend, dringt Diderot methodisch und doch in freiester Gedankenbewegung zum Problem der Individualität der Sprachform vor. Wie Lessing, um die unvergleichliche Eigenheit des poetischen Genies zu bezeichnen, an das Wort erinnert, daß sich eher dem Herkules seine Keule nehmen lasse, als dem Homer oder Shakespeare ein einziger Vers – so geht auch Diderot von diesem Worte aus. Das Werk eines wahrhaften Dichters ist und bleibt unübersetzbar – man mag den Gedanken wiedergeben, man wird vielleicht das Glück haben, hie und da einen gleichwertigen Ausdruck zu finden; aber die Gesamtdarstellung, der Ton und Klang des Ganzen, bleibt immer eine einzige subtile und unübertragbare


  1. [1] Locke, Essay, B. II, ch. 22, sect. 6; B. III, ch. 5, sect. 8.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/98&oldid=- (Version vom 14.9.2022)