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die ihre eigentliche Erfüllung erst bei Wilhelm v. Humboldt gefunden hat[1]. Innerhalb des philosophischen Empirismus aber wird seine Anregung nur insofern weitergeführt, als man sich der spezifischen Prägung und Besonderung der Begriffe in jeder Einzelsprache immer schärfer und deutlicher bewußt wird. Stehen die Sprachbegriffe nicht einfach als Zeichen für objektive Gegenstände und Vorgänge, sondern als Zeichen für die Vorstellung, die wir uns von ihnen bilden, so muß sich in ihnen notwendig nicht sowohl die Beschaffenheit der Dinge, als die individuelle Art und Richtung der Auffassung der Dinge widerspiegeln. Diese wird sich mit besonderem Nachdruck dort geltend machen, wo es sich nicht darum handelt, einfache sinnliche Eindrücke im Laut festzuhalten, sondern wo das Wort als Ausdruck einer komplexen Gesamtvorstellung dient. Denn jede derartige Vorstellung und demgemäß jeder Name, den wir solchen „gemischten Modi“ (mixed modes, wie Locke sie nennt), beilegen, geht letztlich auf die freie Aktivität des Geistes zurück. Während der Geist hinsichtlich seiner einfachen Eindrücke schlechthin passiv ist und sie in der Gestalt, in der sie ihm von außen gegeben werden, lediglich hinzunehmen hat, stellt sich in der Verbindung dieser einfachen Ideen weit mehr seine eigene Natur, als die der Objekte außer ihm dar. Nach einem realen Vorbild dieser Verknüpfungen braucht nicht gefragt zu werden; vielmehr sind die Arten und Spezies der „gemischten Modi“ und die Namen, die wir ihnen beilegen, vom Verstande ohne Modelle, ohne jede unmittelbare Anknüpfung an wirklich existierende Dinge geschaffen. Dieselbe Freiheit, die Adam besaß, als er die ersten Benennungen komplexer Vorstellungen nach keinem anderen Musterbild, als dem seiner eigenen Gedanken erschuf, – dieselbe Freiheit bestand und besteht weiterhin für alle Menschen[2].

Hier stehen wir, wie man sieht, an der Stelle, an der im System des Empirismus die Spontaneität des Geistes ihre, wenngleich vorläufig nur bedingte und mittelbare, Anerkennung findet. Und diese wesentliche Einschränkung der Abbildtheorie der Erkenntnis muß nun sofort auf die Gesamtanschauung der Sprache zurückwirken. Wenn die Sprache in ihren komplexen Begriffsworten nicht sowohl ein Spiegelbild des sinnlichen Daseins, als vielmehr ein Spiegelbild geistiger Operationen ist, so wird diese Spiegelung sich auf unendlich vielfältige und verschiedenartige


  1. [1] S. Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum[WS 1], Lib. VI, Cap. 1: Innumera sunt ejusmodi, quae justum volumen complere possint. Non abs re igitur fuerit grammatica philosophantem a simplici et litteraria distinguere, et desideratam ponere.
  2. [2] S. Locke, Essay, B. II, ch. 22, sect. 1 ff.; B. III, ch. 5, sect. 1–3; ch. 6, sect. 51 u. s.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: De dignitale et augmentis scintarum
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/97&oldid=- (Version vom 14.9.2022)