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Sein, weder in den Dingen, noch in den Ideen irgendein Vorbild oder „Archetyp“. Alle Wirklichkeit – die seelische so gut wie die physische – ist ihrem Wesen nach konkrete, individuell bestimmte Wirklichkeit: um zu ihrer Anschauung vorzudringen, müssen wir uns daher vor allem der falschen und trügerischen, der „abstrakten“ Allgemeinheit des Wortes entledigen. Mit aller Entschiedenheit wird diese Folgerung von Berkeley gezogen. Jede Reform der Philosophie muß sich in erster Linie auf einer Kritik der Sprache aufbauen, muß vor allen Dingen die Illusion wegräumen, in der sie den menschlichen Geist seit jeher gefangen hält. „Es kann nicht geleugnet werden, daß Worte trefflich dazu dienen, den ganzen Vorrat von Kenntnissen, der durch die vereinten Bemühungen von Forschern aller Zeiten und Völker gewonnen worden ist, in den Gesichtskreis eines jedes Einzelnen zu ziehen und ihn in seinen Besitz zu bringen. Zugleich aber muß anerkannt werden, daß die meisten Teile des Wissens durch den Mißbrauch von Worten und allgemeinen Redeweisen erstaunlich verwirrt und verdunkelt worden sind. Es wäre daher zu wünschen, daß ein jeder so sehr als möglich sich bemühte, eine klare Einsicht in die Ideen zu gewinnen, die er betrachten will, indem er von denselben alle die Bekleidung und all den beschwerlichen Anhang von Worten abtrennt, der so sehr dazu beiträgt, das Urteil zu trüben und die Aufmerksamkeit zu teilen. Vergeblich erweitern wir unseren Blick in die himmlischen Räume und erspähen das Innere der Erde; vergeblich ziehen wir die Schriften gelehrter Männer zu Rate und verfolgen die dunklen Spuren des Altertums; wir brauchten nur den Vorhang von Worten wegzuziehen, um klar und rein den Baum der Erkenntnis zu erblicken, dessen Frucht vortrefflich und unserer Hand erreichbar ist[1].“

Aber diese radikale Kritik der Sprache enthält freilich, näher betrachtet, mittelbar zugleich eine Kritik des sensualistischen Erkenntnisideals, auf das sie sich stützt. Von Locke zu Berkeley hat sich in der Stellung des Empirismus zum Sprachproblem eine eigentümliche Umkehr vollzogen. Wenn Locke in der Sprache seine Grundansicht der Erkenntnis bestätigt und beglaubigt fand, – wenn er sie zum Zeugen für seine allgemeine These aufrief, daß nichts im Verstande sein könne, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei: so zeigt sich jetzt vielmehr, daß die eigentliche und wesentliche Funktion des Wortes innerhalb des sensualistischen Systems keinen Raum hat. Soll dieses System aufrecht erhalten werden, so bleibt kein anderes Mittel, als diese Funktion zu bestreiten und auszuschalten. Die Struktur der Sprache wird jetzt nicht als


  1. [1] Berkeley, A treatise concerning the principles of human knowledge, Introd., § 21–24.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/93&oldid=- (Version vom 14.9.2022)