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eins[1]. Alles empirische Dasein und alles empirische Geschehen ist in sich derart verknüpft und geordnet, wie die intelligiblen Wahrheiten es fordern: – und eben hierin besteht seine Wirklichkeit, besteht das, was Schein und Sein, Realität und Traum voneinander unterscheidet[2]. Diese Wechselbeziehung, diese „prästabilierte Harmonie“ zwischen dem Ideellen und dem Reellen, zwischen dem Bereich der allgemeingültigen und notwendigen Wahrheiten und dem des besonderen und faktischen Seins ist für den Empirismus aufgehoben. Je schärfer er die Sprache nicht als Ausdruck der Dinge, sondern als Ausdruck der Begriffe nimmt, um so bestimmter und gebieterischer muß sich daher für ihn die Frage erheben, ob nicht das neue geistige Medium, das hier anerkannt ist, die letzten „wirklichen“ Elemente des Seins, statt sie zu bezeichnen, vielmehr verfälscht. Von Bacon bis zu Hobbes und Locke kann man fortschreitend die Entwicklung und die immer schärfere Zuspitzung dieser Frage verfolgen, bis sie zuletzt bei Berkeley in voller Klarheit vor uns steht. Für Locke ist der Erkenntnis, so sehr er sie in den besonderen Daten der Sinnes- und Selbstwahrnehmung gegründet sein läßt, doch eine Tendenz zur „Allgemeinheit“ eigen: und dieser Tendenz auf das Allgemeine der Erkenntnis kommt die Allgemeinheit des Wortes entgegen. Das abstrakte Wort wird zum Ausdruck der „abstrakten allgemeinen Idee“, die hier noch, neben den Einzelempfindungen, als eine psychische Wirklichkeit von eigener Art und von selbständiger Bedeutung anerkannt wird[3]. Der Fortschritt und die Konsequenz der sensualistischen Ansicht aber führt notwendig auch über diese relative Anerkennung und diese wenigstens mittelbare Duldung des „Allgemeinen“ hinaus. Das Allgemeine hat so wenig im Bereich der Ideen, wie in dem der Dinge irgendeinen wahrhaften und gegründeten Bestand. Damit aber steht nun das Wort und die Sprache überhaupt gleichsam völlig im Leeren. Für das, was in ihnen ausgesprochen ist, findet sich weder im physischen, noch im psychischen


  1. [1] „la vérité étant une même chose avec l’être (Descartes, Meditat. V).
  2. [2] Vgl. z. B. Leibniz, Hauptschriften (Ausg. Cassirer-Buchenau), I, 100, 287, 349, II, 402 f u. s.
  3. [3] „A distinct name for every particular thing would not be of any great use for the improvement of the knowledge, which, though founded in particular things, enlarges itself by general views; to which things reduced into general names are properly sub servient … Words become general by being made the signs of general ideas: and ideas become general by separating from them the circumstances of time and place, and any other ideas that may determine them to this or that particular existence. By this way of abstraction they are made capable of representing more individuals than one; each of which, having in it a conformity to that abstract idea, is (as we call it) of that sort.“ Locke, Essay, B. III, Cap. III, sect. 4–6.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/92&oldid=- (Version vom 14.9.2022)