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nur der Entfaltung und „Auswicklung“ bedarf, so ist auch jedes sinnliche Symbol der Träger einer rein geistigen Bedeutung, die freilich in ihm nur „virtuell“ und implizit gegeben ist. Das echte Ideal der „Aufklärung“ besteht darin, diese sinnlichen Hüllen nicht mit einem Schlage abzustreifen, diese Symbole nicht wegzuwerfen, sondern sie mehr und mehr als das, was sie sind, zu verstehen und sie damit geistig zu beherrschen und zu durchdringen.

So weit und universell indes die logische und metaphysische Gesamtansicht ist, der Leibniz hier die Sprache einfügt, so droht doch gerade in dieser Universalität ihr besonderer Gehalt unterzugehen. Der Plan der allgemeinen Charakteristik beschränkt sich nicht auf ein einzelnes Gebiet, sondern er will alle Arten und Gruppen von Zeichen, von den einfachen Laut- und Wortzeichen bis hinauf zu den Zahlzeichen der Algebra, wie den Symbolen der mathematischen und logischen Analysis, in sich fassen. Er geht ebensowohl auf diejenigen Äußerungsformen, die lediglich einem natürlichen, unwillkürlich hervorbrechenden „Instinkt“ zu entstammen scheinen, wie auf diejenigen, die in einer freien und selbstbewußten Schöpfung des Geistes ihren Ursprung haben. Damit ist jedoch die spezifische Eigentümlichkeit der Sprache, als Laut- und Wortsprache, nicht sowohl gewürdigt und erklärt, als sie vielmehr letzten Endes ausgeschaltet erscheint. Wäre das Ziel der allgemeinen Charakteristik erreicht, wäre jede einfache Idee durch ein einfaches sinnliches Zeichen und jede komplexe Vorstellung durch eine entsprechende Kombination solcher Zeichen ausgedrückt, so wäre alle Besonderheit und Zufälligkeit der Einzelsprachen wieder in eine einzige allgemeine Grundsprache aufgelöst. Leibniz verlegt diese Grundsprache, diese lingua Adamica, wie er sie mit einem alten Ausdruck der Mystiker und Jacob Boehmes benennt[1], nicht in eine paradiesische Vergangenheit der Menschheit zurück, sondern er faßt sie als einen reinen Idealbegriff, dem sich unsere Erkenntnis fortschreitend annähern muß, um das Ziel der Objektivität und Allgemeingültigkeit zu erreichen. In dieser ihrer letzten und höchsten, in ihrer endgültigen Gestalt wird nach ihm die Sprache erst als dasjenige heraustreten, was sie wesentlich ist: – hier wird das Wort keine bloße Hülle des Sinnes mehr sein, sondern als ein echter Zeuge der Einheit der Vernunft erscheinen, die, als notwendiges Postulat, aller philosophischen Erfassung eines besonderen geistigen Seins zugrunde liegt.


  1. [1] Zur Idee der „Lingua Adamica“ vgl. Philos. Schriften VII, 198, 204; Nouveaux Essais III, 2 (Gerh. V, 260) u. ö.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/88&oldid=- (Version vom 15.9.2022)