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Wissen, nach seinem Inhalt und seinem Aufbau, schon als gegeben vorauszusetzen scheint, und daß andererseits eben diese Charakteristik es sein soll, kraft deren uns dieser Aufbau erst wahrhaft faßbar und verständlich wird – dieser Zirkel löst sich für Leibniz dadurch, daß für ihn hier überhaupt nicht zwei getrennte Aufgaben vorliegen, deren eine nach der anderen in Angriff genommen werden könnte, sondern daß beide von ihm in reiner sachlicher Korrelation gedacht werden. Der Fortschritt der Analyse und der Fortschritt der Charakteristik fordern und bedingen sich wechselweise: denn jede logische Einheitssetzung und jede logische Unterscheidung, die das Denken vollzieht, besteht für dasselbe in wirklicher Klarheit und Schärfe erst dann, wenn sie sich in einem bestimmten Zeichen fixiert haben. So gesteht Leibniz Descartes zu, daß die echte Universalsprache der Erkenntnis von dieser selbst, also von der „wahren Philosophie“ abhängig sei, aber er fügt hinzu, daß sie nichtsdestoweniger deren Vollendung nicht abzuwarten brauche, daß sich vielmehr beide Leistungen, die Analysis der Ideen und die Zeichengebung, an und miteinander entwickeln würden.[1] Es spricht sich hierin nur jene allgemeinste methodische Grundüberzeugung und gleichsam jene methodische Grunderfahrung aus, die er in der Entdeckung der Analysis des Unendlichen bewährt gefunden hatte: wie dort der Algorithmus der Differentialrechnung sich nicht bloß als ein bequemes Mittel der Darstellung des Gefundenen, sondern als ein echtes Organon der mathematischen Forschung erwiesen hatte, so soll allgemein die Sprache dem Denken diesen Dienst leisten; – sie soll nicht nur seiner Bahn folgen, sondern diese Bahn erst zubereiten und sie fortschreitend ebnen.

So erhält Leibniz’ Rationalismus in der Betrachtung der Sprache, die rein als Erkenntnismittel, als Instrument der logischen Analyse, aufgefaßt wird, erst seine letzte Bestätigung und Vollendung; – aber zugleich gewinnt dieser Rationalismus jetzt, im Vergleich zu Descartes, gewissermaßen eine konkrete Form. Denn die Korrelation, die hier zwischen Denken und Sprechen behauptet wird, rückt auch das Verhältnis zwischen Denken und Sinnlichkeit in ein neues Licht. Mag immerhin die Sinnlichkeit der fortschreitenden Auflösung in die distinkten Ideen des Verstandes bedürfen, – so gilt doch andererseits, für den Standpunkt, in dem der endliche Geist sich befindet, immer auch die umgekehrte Bindung. Auch unsere „abstraktesten“ Gedanken enthalten immer noch einen Zusatz der Einbildungskraft, der für uns zwar weiter zerlegbar ist, bei dem aber die


  1. [1] S. Leibniz’ Bemerkungen zum Brief Descartes’ an Mersenne: Opuscules et fragments inédits, ed. Couturat, Paris 1903, S. 27 f.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/86&oldid=- (Version vom 15.9.2022)