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und die erst in ihrer Gesamtheit zur Anschauung des wahren Seins, des Erkenntnisgegenstandes, als des γνωστὸν καὶ ἀληθῶς ὄν hinführen. Die untersten Stufen sind durch den Namen, durch die sprachliche Definition des Gegenstandes und durch sein sinnliches Abbild, durch ὄνομα, λόγος und εἴδωλον gegeben. So kann z. B. das Wesen des Kreises in dieser dreifachen Weise erfaßt werden: das eine Mal, indem wir einfach den Namen des Kreises aussprechen, das andere Mal, indem wir diesen Namen durch eine Erklärung des in ihm Gemeinten näher bestimmen und umgrenzen, indem wir also etwa den Kreis als dasjenige Gebilde „definieren“, was von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt allseitig die gleiche Entfernung hat, und schließlich, indem wir irgendeine sinnliche Gestalt, sei sie im Sande hingezeichnet oder vom Drechsler verfertigt, als Bild, als Modell des Kreises vor uns hinstellen. Keine dieser Darstellungen im Wort, in der Definition und im Modell erreicht und faßt die wahre Wesenheit des Kreises – denn sie alle gehören nicht dem Reich des Seins, sondern dem des Werdens an. Wie der Laut wandelbar und flüchtig ist, wie er entsteht und vergeht, so kann auch das gezeichnete Bild des Kreises wieder weggewischt, das vom Drechsler gebildete Modell wieder vernichtet werden – alles Bestimmungen, von denen der Kreis als solcher (αὐτὸς ὁ κύκλος) in keiner Weise betroffen wird. Und doch wird andererseits erst durch diese für sich unzureichenden Vorstufen die vierte und fünfte Stufe, die wissenschaftliche Erkenntnis und ihr Gegenstand, erreicht. In diesem Sinne bleiben Name und Bild, ὄνομα und εἴδωλον, von der vernünftigen Einsicht, der ἐπιστήμη, aufs schärfste geschieden – und gehören doch andererseits zu ihren Voraussetzungen, zu den Vehikeln und Mittlern, vermöge deren wir uns erst, im stetigen Fortschritt und Stufengang, zur Erkenntnis erheben können (δι᾿ ὧν τὴν ἐπιστήμην ἀνάγκη παραγίγνεσθαι). Das Wissen vom Gegenstand und dieser selbst erscheint demnach ebensowohl als etwas, was diese drei Stufen überschreitet, wie als etwas, was sie in sich befaßt – als deren Transzendenz und deren Synthese[1].

In diesen Entwicklungen des siebenten Platonischen Briefes ist – zum erstenmal in der Geschichte des Denkens – der Versuch gemacht, den Erkenntniswert der Sprache in rein methodischem Sinne zu bestimmen und zu umgrenzen. Die Sprache wird als ein erster Anfangspunkt


  1. [1] S. den siebenten Brief 342 A ff.; zur Echtheit des siebenten Briefes vgl. bes. Wilamowitz, Platon, I, 641 ff., II, 282 ff., sowie die eingehende Analyse der philosophischen Stelle bei Jul. Stenzel, Über den Aufbau der Erkenntnis im VII. Platonischen Brief, Sokrates, Jahrg. 47, S. 63 ff. und E. Howald, Die Briefe Platons, S. 34 (Zürich 1923).
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/79&oldid=- (Version vom 15.9.2022)