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Der mythischen Ansicht des Weltgeschehens tritt zum ersten Mal in voller Bewußtheit und Klarheit der philosophisch-spekulative Grundgedanke von der einheitlichen und unverbrüchlichen Gesetzlichkeit des All gegenüber. Die Welt ist kein Spielball dämonischer Mächte mehr, die sie nach Laune und Willkür regieren, sondern sie untersteht einer schlechthin allgemeinen Regel, die alles einzelne Sein und alles einzelne Geschehen bindet und die ihm seine festen Maße anweist. „Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten, sonst werden die Erinnyen, die Schergen der Dike, sie ausfindig zu machen wissen.“ (fr. 94, Diels.) Und dieses eine in sich unveränderliche Gesetz des Kosmos ist es nun, was sich, in verschiedener Form und doch innerlich sich selbst gleich, in der Welt der Natur, wie in der der Sprache ausdrückt. Denn eines ist Weisheit: den Sinn zu erkennen, der durch alles hindurchwirkt – ἕν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων. (fr. 41.) Der magisch-mythische Kraftzusammenhang hat sich somit jetzt in einen Sinnzusammenhang gewandelt. Dieser aber erschließt sich uns freilich nicht, solange wir noch dabei stehen bleiben, das Eine Sein nur getrennt und bruchstückweise, nur zerschlagen in eine Vielheit besonderer „Dinge“, zu erfassen, sondern erst, wenn wir es als ein lebendiges Ganze anschauen und erfassen. Auch die Sprache vereinigt in sich beide Ansichten: auch in ihr findet sich, je nachdem wir sie betrachten, nur eine zufällige und partikuläre Auffassung des Seins oder eine echt spekulative und allgemeine ausgedrückt. Betrachten wir den Logos der Sprache nur in der Form, in der er sich im einzelnen Wort darstellt und niederschlägt – so zeigt sich, daß jedes Wort den Gegenstand, den es bezeichnen will, vielmehr begrenzt und in dieser Begrenzung verfälscht. Durch die Fixierung im Wort wird der Inhalt aus dem kontinuierlichen Strom des Werdens, in dem er steht, herausgehoben, wird er also nicht nach seiner Totalität erfaßt, sondern nur nach einer einseitigen Bestimmung dargestellt. Hier bleibt, wenn wir wieder zur tieferen Erkenntnis des echten Wesens des Dinges vordringen wollen, kein anderer Weg, als diese einseitige Bestimmung in einer anderen wiederum aufzuheben, also jedem Wort, das einen bestimmten Einzelbegriff in sich faßt, den Gegensatz eben dieses Begriffs gegenüberzustellen. Und so zeigt sich in der Tat, im Ganzen der Sprache, jede Bedeutung an ihr Gegenteil, jeder Sinn an seinen Gegensinn gebunden und wird erst mit ihm vereint zum adäquaten Ausdruck des Seins. Die geistige Synthese, die Vereinigung, die sich im Wort vollzieht, gleicht darin der Harmonie des Kosmos und drückt sie in sich aus, daß sie eine in sich „gegenstrebige“ ist:

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/74&oldid=- (Version vom 15.9.2022)