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Gliederung. Die mythische Ansicht der Sprache geht in der gleichen Richtung fort, indem sie sich von der Anschauung der besonderen Kraft, die im einzelnen Wort und in der einzelnen magischen Formel enthalten ist, mehr und mehr zum Gedanken einer allgemeinen Potenz erhebt, die das Wort als solches, die die „Rede“ als Ganzes besitzt. In dieser mythischen Form wird der Begriff der Sprache als Einheit zuerst konzipiert. Schon in der frühesten religiösen Spekulation kehrt mit charakteristischer Gleichförmigkeit in weit auseinanderliegenden Gebieten dieser Gedanke wieder. Für die vedische Religion bildet die geistige Kraft des Wortes eines der Grundmotive, aus dem sie erwächst: das heilige Wort ist es, das in dem Gebrauch, den der Wissende, der Priester, von ihm macht, zum Herrn über alles Sein, über Götter und Menschen wird. Schon im Rigveda wird der Gebieter des Wortes mit der allnährenden Kraft, dem Soma, gleichgesetzt und als der bezeichnet, welcher über alles mit Macht gebietet. Denn der menschlichen Rede, die entsteht und vergeht, liegt die ewige und unvergängliche Rede, die himmlische Vâc zugrunde. „Ich wandle – so spricht diese himmlische Rede in einem Hymnus von sich selbst – mit den Vasu’s, mit den Rudra’s, mit den Aditya’s und mit allen Göttern … Ich bin die Königin, die Spenderin der Güter, die wissende, bin der ehrwürdigen erste; vielfach verteilt, an vielen Orten weilend, vieles durchdringend, machten mich die Götter. Wer Einsicht hat, der speiset durch mich Speise; wer atmet, wenn er höret, was ich sage … Dem Winde gleichend wahrlich stürm’ ich vorwärts, mit Macht erfassend sämtliche Geschöpfe. Weit ob dem Himmel, weit hier ob der Erde bin ich so groß an Majestät geworden[1].“

Noch eng verschwistert mit dieser mythischen Ansicht von der Würde und Allmacht des himmlischen Wortes scheint auf den ersten Blick der Begriff des „Logos“ zu sein, wie er sich zuerst in der griechischen Spekulation gestaltet. Denn auch hier ist das Wort ein Ewiges und Unvergängliches; auch hier geht auf seine Einheit und Unzerstörbarkeit die Einheit und der Bestand des Seienden überhaupt zurück. So wird für Heraklit der Logos zum „Lenker des All“. Gleich dem Kosmos, den es beherrscht, hat es keiner von den Göttern und keiner der Menschen geschaffen, sondern es war immerdar und ist und wird sein. Aber mitten in der Sprache des Mythos, die Heraklit noch spricht, wird jetzt ein ganz neuer Ton vernehmlich.


  1. [1] Rigveda X, 125 – die Übersetz. nach Benfey, Gesch. der Sprachwissenschaft u. oriental. Philologie in Deutschland, München 1869, S. 41; zur mythisch-religiösen Bedeutung der Vâc vgl. bes. Brihadâranyaka Upanishad 1, 5, 3 ff. (bei Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda ³, Lpz., 1921, S. 401 ff.).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/73&oldid=- (Version vom 14.9.2022)