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KAPITEL I
DAS SPRACHPROBLEM IN DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE[1]
I

Die philosophische Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Sprache ist im Grunde so alt, wie die Frage nach dem Wesen und Ursprung des Seins. Denn eben dies charakterisiert die erste bewußte Reflexion über das Ganze der Welt, daß für sie Sprache und Sein, Wort und Sinn sich noch nicht voneinander abgesondert haben, sondern daß sie ihr als eine untrennbare Einheit erscheinen. Weil die Sprache selbst eine Voraussetzung und Bedingung der Reflexion ist, weil erst in ihr und durch sie die philosophische „Besonnenheit“ erwacht, – darum findet auch die erste Besinnung des Geistes sie immer schon als eine gegebene Realität, als eine „Wirklichkeit“, die der physischen vergleichbar und ebenbürtig ist, vor. Die Welt der Sprache umfängt den Menschen, in dem Augenblick, in dem er zuerst seinen Blick auf sie richtet, in derselben Bestimmtheit und Notwendigkeit und in der gleichen „Objektivität“, mit der ihm die Welt der Dinge gegenübertritt. Hier wie dort steht vor ihm ein Ganzes, das in sich selbst sein eigenes Wesen und seine eigenen, aller individuellen Willkür entrückten Bindungen besitzt. So wenig wie die Beschaffenheit


  1. [1] Eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Sprachphilosophie ist noch ein Desiderat: der Überweg’sche Grundriß der Geschichte der Philosophie verzeichnet in seiner neuesten (elften) Auflage (1920) neben den allgemeinen Darstellungen der Philosophiegeschichte eine Fülle von Monographien zur Geschichte der Logik und Erkenntnistheorie, der Metaphysik und Naturphilosophie, der Ethik, der Religionsphilosophie, der Ästhetik, nennt aber kein einziges Werk zur Geschichte der Sprachphilosophie. Nur die antike Sprachphilosophie hat in den bekannten Werken von Lersch u. Steinthal, sowie in der Literatur über die antike Grammatik und Rhetorik eine eingehendere Darstellung erfahren. Die folgende knappe geschichtliche Einleitung erhebt natürlich nicht den Anspruch, diese Lücke auszufüllen; sie will nur die Hauptmomente in der philosophischen Entwicklung der „Sprachidee“ herausgreifen und einige vorläufige Richtlinien für eine künftige ausführliche Bearbeitung des Themas aufstellen.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/71&oldid=- (Version vom 20.8.2021)