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haben. Es liegt nahe, die innige Verflechtung, die beide Momente in der Sprache eingehen, im sensualistischen Sinne zu deuten – und schon Locke hat, auf Grund einer derartigen Deutung, die Sprache als einen Hauptzeugen für seine empiristische Grundansicht der Erkenntnis in Anspruch genommen[1]. Aber auch für das sprachliche Denken darf man sich, solchen Deutungen gegenüber, auf den scharfen Unterschied berufen, den Kant, innerhalb der Kritik der Erkenntnis, zwischen „Anheben“ und „Entspringen“ macht. Wenn in der Entstehung der Sprache Sinnliches und Gedankliches unlöslich ineinander verflochten scheinen, so begründet doch diese Korrelation, eben als solche, zwischen beiden kein Verhältnis einer bloß einseitigen Abhängigkeit. Denn der intellektuelle Ausdruck vermöchte sich nicht am sinnlichen und aus dem sinnlichen zu entwickeln, wenn er in diesem nicht schon ursprünglich beschlossen läge; – wenn nicht, mit Herder zu sprechen, schon die sinnliche Bezeichnung einen Akt der „Reflexion“, einen Grundakt der „Besinnung“ in sich faßte. Das Wort: πάντα θεῖα καὶ ἀνθρώπινα πάντα findet daher vielleicht nirgends eine so deutliche Bestätigung, als in der Bedeutungs- und Formenlehre hochentwickelter Sprachen: der Gegensatz zwischen den beiden Extremen des Sinnlichen und des Intellektuellen faßt den eigentümlichen Gehalt der Sprache nicht, weil diese in all ihren Leistungen und in jeder Einzelphase ihres Fortschritts sich als eine zugleich sinnliche und intellektuelle Ausdrucksform erweist.


  1. [1] S. ob. S. 73 f.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/309&oldid=- (Version vom 23.3.2023)