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im „Beisammen“ der Teile des Satzes; aber sie gelangt nicht dazu, dieses rein statische Verhältnis auf ein dynamisches, auf ein Verhältnis der wechselseitigen gedanklichen Abhängigkeit zurückzuführen und es als solches zur expliziten Darstellung zu bringen. Statt der Schichtung und der genauen Abstufung in Nebensätze dient etwa eine einzige Gerundialkonstruktion dazu, eine Fülle der verschiedenartigsten Bestimmungen und Modifikationen der Handlung ohne das allgemeine Gesetz der Beiordnung zu verlassen, mit einander zusammenschließen und sie in einem festen, aber auch eigentümlich starren Gefüge zu umfassen[1].

Ihren negativen, aber nicht minder charakteristischen Ausdruck findet die Gedanken- und Sprachform, die sich hierin ausprägt, in dem Fehlen derjenigen Wortklasse, die – wie schon die Bezeichnung besagt, die die Grammatiker für sie geschaffen haben – als eines der Grundmittel des beziehentlichen Denkens und des sprachlichen Beziehungsausdrucks anzusehen ist. Das Pronomen relativum scheint in der Entwicklung der Sprache überall eine späte, und wenn man die Gesamtheit der Sprachen überblickt, eine verhältnismäßig seltene Bildung darzustellen. Bevor die Sprache zu dieser Bildung fortgeschritten ist, müssen die Verhältnisse, die wir durch Relativsätze zum Ausdruck bringen, durch mehr oder minder komplexe Satzfügungen ersetzt und umschrieben werden. Verschiedene Methoden dieser Umschreibung hat Humboldt am Beispiel der amerikanischen Eingeborenensprachen, insbesondere am Beispiel des Peruanischen und Mexikanischen, erläutert[2]. Auch die melanesischen Sprachen lassen an Stelle der Unterordnung durch Relativsätze und relative


  1. [1] Höchst markante Beispiele für derartige Satzfügungen werden z. B. von J. J. Schmidt in seiner „Grammatik der mongolischen Sprache“ (bes. S. 62 ff., 124 ff.) angeführt. Ein Satz wie unser deutscher Satz: „Nachdem ich das Pferd von meinem älteren Bruder erbeten und es meinem jüngeren Bruder übergeben hatte, nahm dieser dasselbe von mir in Empfang, bestieg es, während ich ins Haus ging, um einen Strick zu holen, und entfernte sich, ohne Jemandem etwas zu sagen“ lautet im Mongol. so, daß er, wörtlich übersetzt besagt: „Ich das Pferd von meinem älteren Bruder erbittend nehmend, meinem jüngeren Bruder gegeben habend, dieser dasselbe von mir empfangend, einen Strick zu holen in das Haus (während) ich ging, der jüngere Bruder, Jemandem ohne etwas zu sagen, es besteigend sich entfernte.“ (Hierbei ist noch – wie H. Winkler a. a. O., S. 112 bemerkt – durch das Wort ‚während‘ in der Übersetzung ein konjunktionales Verhältnis eingeflochten, wo die entsprechende Stelle des Textes keinerlei Konjunktion aufweist.) Ähnliche, ebenfalls sehr bezeichnende Beispiele der Satzkonstruktion durch Anwendung der Gerundia, Supina und partizipialähnlicher Bildungen werden von J. J. Schmidt z. B. aus dem Tibetanischen angeführt (Tibet. Grammat., S. 197).
  2. [2] S. Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 253 f.). Auch die Klamath-Sprache gebraucht dort, wo wir eingeschobene Relativsätze anwenden, einen Partizipial- oder Verbalausdruck, s. Gatschet, Klamath language, S. 657.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/300&oldid=- (Version vom 21.3.2023)