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jede derartige Synthese nicht ausschließlich durch theoretische, sondern durch imaginative Gesichtspunkte beherrscht wird und daß daher auch die sprachliche „Begriffsbildung“ auf weite Strecken hin nicht sowohl als eine Leistung der logischen Vergleichung und Verknüpfung der Wahrnehmungsinhalte, als vielmehr als eine Leistung der Sprachphantasie erscheint. Die Form der Reihenbildung wird niemals lediglich durch die objektive „Ähnlichkeit“ der Einzelinhalte bestimmt, sondern sie folgt dem Zuge der subjektiven Einbildungskraft. Die Motive, durch welche die Sprache in ihren Klassenbildungen geleitet wird, scheinen daher durchweg, soweit uns überhaupt ein Einblick in sie verstattet ist, den primitiven mythischen Begriffsformen und Klasseneinteilungen noch nahe verwandt zu sein[1]. Auch hier bewährt sich, daß die Sprache als geistige Gesamtform auf der Grenze zwischen Mythos und Logos steht, und daß sie andererseits die Mitte und Vermittlung zwischen der theoretischen und der ästhetischen Weltbetrachtung darstellt. Daß auch die uns nächstliegende und geläufigste Form der sprachlichen Klassenbildung, daß auch die Scheidung der Nomina in die drei „Geschlechter“ des Maskulinum, Femininum und Neutrum von solchen halb mythischen, halb ästhetischen Motiven durchsetzt ist, tritt in den Einzelanwendungen, die dieses Prinzip erfährt, oft noch unverkennbar hervor. Gerade solche Sprachforscher, die mit der Kraft und Schärfe der grammatisch-logischen Analyse die größte Tiefe und Feinheit der künstlerischen Intuition vereinten, haben daher geglaubt, hier das Prinzip der sprachlichen Begriffsbildung an seiner eigentlichen Quelle zu erfassen und es gleichsam unmittelbar belauschen zu können. Jakob Grimm leitet den Geschlechtsunterschied der indogermanischen Sprachen aus einer Übertragung des natürlichen Geschlechts ab, die sich schon im frühesten Zustand der Sprache vollzogen habe. Nicht nur dem Masculinum und Femininum, sondern auch dem Neutrum wird von ihm ein derartiger „natürlicher Anfang“ zugeschrieben, sofern sein eigentlicher Ursprung in dem „Begriff von foetus oder proles lebendiger Geschöpfe“ gesucht wird. Wenn Grimm weiterhin zu zeigen versucht, daß das Masculinum durchgehend das Frühere, Größere, Festere, Sprödere, Raschere, das Tätige, Bewegliche, Zeugende – das Femininum dagegen das Spätere, Kleinere, Weichere, Stillere, das Leidende und Empfangende – das Neutrum das Erzeugte und Gewirkte, das Stoffartige, Generelle, Kollektive, Unentwickelte bezeichne, so ist ihm freilich hierin die moderne Sprachforschung


  1. [1] Näheres hierüber in m. Aufs. „Die Begriffsform im mythischen Denken“ (Studien der Bibliothek Warburg I), Leipzig 1922.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/284&oldid=- (Version vom 18.3.2023)