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solchen Einteilungen wird sehr deutlich, daß die ersten Begriffsunterscheidungen der Sprache noch durchweg an materielle Substrate gebunden sind; daß die Beziehung zwischen den Gliedern derselben Klasse, wenn sie gedacht werden soll, sich immer zugleich auch in irgendeiner Weise bildmäßig verkörpern muß. In den am reichsten entwickelten und am feinsten durchgebildeten Klassensystemen, wie sie uns in den Bantusprachen begegnen, scheint dann freilich eine Gesamtanschauung gewonnen, die über diesen ersten Kreis bloß sinnlicher Unterscheidungen entschieden hinausreicht. Hier bewährt die Sprache bereits die Kraft, das Ganze des Seins, sofern es als räumliches Ganze genommen wird, als einen Komplex von Beziehungen zu erfassen und es aus ihnen gewissermaßen herauswachsen zu lassen. Wenn in dem genau abgestuften Inbegriff von „Lokativpräfixen“, dessen sich die Bantusprachen bedienen, einerseits die verschiedene Entfernung der Objekte vom Redenden, dann aber auch ihre mannigfachen räumlichen Verhältnisse, ihr „Ineinander“, ihr „Aneinander“ und ihr „Außereinander“ scharf bezeichnet werden, – so beginnt hier die unmittelbare Form der räumlichen Anschauung gleichsam eine systematische Gestalt anzunehmen. Es ist, als würde der Raum hier, als eine mehrfach bestimmte Mannigfaltigkeit, von der Sprache förmlich aufgebaut, als werde er aus den einzelnen Orts- und Richtungsunterscheidungen zu einer in sich geschlossenen und doch zugleich in sich differenzierten Einheit gestaltet[1]. In solchen Klasseneinteilungen scheint sich daher bereits ein Trieb und eine Kraft zur Organisation zu bewähren, die auch dort, wo der Gegenstand selbst noch ganz im Kreis des anschaulichen Seins verharrt, doch ihrem Prinzip nach über diesen bereits hinausdrängt und auf neue und eigentümliche Formen der „Synthesis des Mannigfaltigen“ hinweist, über die die Sprache verfügt.

Hierbei liegt es freilich im Wesen der Sprache selbst begründet, daß


    Andaman Group of Tribes, Calcutta 1898, gegeben worden. Im Klassensystem des Andamanischen bilden zunächst die menschlichen Wesen eine besondere Klasse, die von den sonstigen Nomina unterschieden wird; dann aber werden die einzelnen Körperteile, sowie die Verwandtschaftsnamen in Gruppen abgeteilt, die sprachlich scharf voneinander getrennt werden, so daß z. B. für jede besondere Gruppe besondere possessive Fürwörter, besondere Ausdrücke des mein, dein, sein u. s. f. im Gebrauch sind. Zwischen den einzelnen Körperteilen selbst und den Verwandtschaftsgruppen besteht dann weiterhin wieder eine Reihe analogischer Zuordnungen und „Identitäten“. (Cf. Man, a. a. O., S. 51 ff. und Portman, a. a. O., S. 37 ff.).

  1. [1] Vgl. hrz. die Darstellung des Systems der „Lokativpräfixe“ der Bantu-Sprachen in Meinhofs Bantugrammatik, S. 19 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/283&oldid=- (Version vom 18.3.2023)