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der Mensch mit seinem leiblichen Auge allemal das räumlich Zunächstliegende in schärferer Besonderung erschaut, so werden auch mit dem seelischen Auge, dessen Spiegel die Sprache ist, die Dinge der Vorstellungswelt desto schärfer und individueller erfaßt, je näher sie dem Empfinden und Denken des Sprechenden treten, je intensiver und lebhafter sie infolgedessen das Gemüt zu ergreifen, das psychische Interesse des Einzelnen, d. i. des Menschen- und des Völkerindividuums zu erregen pflegen.“ Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es in der Tat bedeutsam, daß eben jene Begriffskreise, für die die Sprachen der Naturvölker die größte Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Benennung zeigen, auch diejenigen sind, bei denen, innerhalb der indogermanischen Sprachen, die Suppletiverscheinungen am reichhaltigsten entwickelt sind und bei denen sie sich am längsten behaupten. Von den Tätigkeitsworten sind es insbesondere die Verba der Bewegung: das „Gehen“ und „Kommen“, das „Laufen“ und „Rennen“, dann die Verba des Essens, des Schlagens, des Sehens, des Sprechens u. s. f., an denen die vielfältigste Besonderung sich findet. Daß in der indogermanischen Grundsprache z. B. die Varietäten des „Gehens“ früher unterschieden waren, als dessen allgemein sprachlicher Begriff gefunden war, hat G. Curtius im einzelnen erwiesen – und er hat weiterhin dargelegt, daß die Vorstellungen des Schauens und Spähens, des Blickens, Achtens und Wahrens im Indogermanischen früher geschieden gewesen sein müssen, als die Bezeichnungen der verschiedenen Sinnestätigkeiten als solcher, des Sehens, Hörens und Fühlens, sich herausbildeten. Und erst der spätesten Entwicklung gehören Verba an, die wie das nachhomerische αἰσθάνεσθαι, sentire, empfinden die sinnliche Wahrnehmung überhaupt bezeichnen[1]. Erwägt man, daß den Erscheinungen des Suppletivwesens im Indogermanischen ganz analoge Bildungen in anderen Sprachkreisen, z. B. in den semitischen Sprachen entsprechen, so ergibt sich, daß hier die Form der Wortbildung in der Tat eine allgemeine Richtung der sprachlichen Begriffsbildung widerspiegelt. Von einer ursprünglichen „individualisierenden“ Tendenz der Sprache wird man freilich in strengem Sinne kaum reden können: denn jede noch so konkret gefaßte Benennung einer einzelnen Anschauung geht über ihre rein individuelle Erfassung bereits hinaus und ist ihr in gewissem Sinne entgegengerichtet. Aber es ist allerdings eine Allgemeinheit verschiedener Dimensionen, die sich in den Sprachbegriffen ausdrücken kann. Stellt man sich die Gesamtheit der Anschauungswelt als eine gleichförmige


  1. [1] Curtius, Grundz. der griech. Etymologie 5, S. 98 f.; zum Ganzen s. Osthoff, Vom Suppletivwesen der indogerman. Sprachen, Akad. Rede, Heidelberg 1899.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/276&oldid=- (Version vom 5.3.2023)