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innerhalb dieser Klassen bestehen die feinsten Abstufungen. Das Fohlen, das noch keine Seitenzähne hat, das Fohlen, welches zu gehen anfängt, weiterhin das Kamel vom ersten bis zum zehnten Jahre tragen je einen eigenen Namen. Andere Unterschiede werden von der Begattung, der Schwangerschaft, der Geburt, wieder andere von besonderen körperlichen Eigentümlichkeiten hergenommen: ein eigener Name dient etwa dazu, ein Kamel mit großen oder kleinen Ohren, mit geschnittenem Ohr oder mit herunterhängenden Ohrlappen, mit großer Kinnlade oder mit starkem herabhängenden Kinn u. s. f. zu bezeichnen[1]. –

In alledem handelt es sich offenbar nicht um das zufällige üppige Wuchern eines einzelnen Sprachtriebes, sondern es prägt sich darin eine ursprüngliche Form und eine Grundtendenz der sprachlichen Begriffsbildung aus, die, auch nachdem die Sprache im allgemeinen über sie hinweggeschritten ist, in einzelnen charakteristischen Nachwirkungen häufig noch deutlich erkennbar ist. Als solche Nachwirkungen hat man insbesondere diejenigen Phänomene der Sprachgeschichte gedeutet, die man seit Herm. Osthoff als Suppletiverscheinungen zu bezeichnen pflegt. Es ist, insbesondere im Flexions- und Wortbildungssystem der indogermanischen Sprachen, eine bekannte Erscheinung, daß bestimmte Wörter und Wortformen, die sich miteinander zu einem Flexionssystem verbinden, wie z. B. die einzelnen Kasus eines Substantivs, die verschiedenen Zeitformen eines Verbs und die Steigerungsformen eines Adjektivs, nicht von ein und demselben sprachlichen Stamm, sondern von zwei oder mehreren solcher Stämme gebildet werden. Neben der „regelrechten“ Bildung der Verbalflexion und der adjektivischen Steigerung stehen Fälle, wie wir sie in fero, tuli, latum, φέρω, οἴσω, ἤνεγκον vor uns haben, die auf den ersten Blick als bloße „Ausnahmen“, als willkürliche Durchbrechungen des Prinzips erscheinen, das formal und bedeutungsmäßig Verknüpfte auch durch wurzelverwandte Worte zu bezeichnen. Das Gesetz, das diese Ausnahmen beherrscht, hat Osthoff dadurch aufzuzeigen vermocht, daß er sie im allgemeinen einer älteren Schicht der Sprachbildung zuweist, in der die „individualisierende“ Auffassung vor der „gruppierenden“ noch das Übergewicht besessen habe. Dieses Übergewicht mußte sich nach ihm um so länger behaupten, je näher die einzelnen in der Sprache festgehaltenen Begriffs- und Bedeutungskreise dem natürlichen Vorstellungskreise des Menschen und seiner unmittelbaren Tätigkeits- und Interessensphäre lagen. „Wie


  1. [1] S. Hammer-Purgstall, Das Kamel. Denkschriften der Kais. Akad. d. Wiss. zu Wien. Philos.-histor. Kl., Bd. VI u. VII (1855 f.).
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/275&oldid=- (Version vom 5.3.2023)