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Das, worin Rot oder Gelb übereinstimmen, und wodurch sie beide Farben sind, läßt sich von dem nicht abtrennen, wodurch Rot rot und Gelb gelb ist; nicht so abtrennen nämlich, daß dies Gemeinsame den Inhalt einer dritten Vorstellung bildete, welche von gleicher Art und Ordnung mit den beiden verglichenen wäre. Empfunden wird, wie wir wissen, stets nur eine bestimmte Einzelschattierung einer Farbe, nur ein Ton von bestimmter Höhe, Stärke und Eigenart … Wer das Allgemeine der Farbe oder des Tones zu fassen sucht, wird sich stets dabei antreffen, daß er entweder eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Ton wirklich vor seiner Anschauung hat, nur begleitet von dem Nebengedanken, jeder andere Ton und jede andere Farbe habe das gleiche Recht, als anschauliches Beispiel des selbst unanschaulich bleibenden Allgemeinen zu dienen; oder seine Erinnerung wird viele Farben und Töne nacheinander ihm mit demselben Nebengedanken vorführen, daß nicht diese einzelnen selbst gemeint sind, sondern das ihnen Gemeinsame, das in keiner Anschauung für sich zu fassen ist … Worte, wie Farbe und Ton sind in Wahrheit nur kurze Bezeichnungen logischer Aufgaben, die sich in der Form einer geschlossenen Vorstellung nicht lösen lassen. Wir befehlen durch sie unserem Bewußtsein, die einzelnen vorstellbaren Töne und Farben vorzustellen und zu vergleichen, in dieser Vergleichung aber das Gemeinsame zu ergreifen, das nach dem Zeugnis unserer Empfindung in ihnen enthalten ist, das jedoch durch keine Anstrengung des Denkens von dem, wodurch sie verschieden sind, sich wirklich ablösen und zu dem Inhalt einer gleich anschaulichen neuen Vorstellung gestalten läßt[1].“

Wir haben diese Lehre Lotzes vom „ersten Allgemeinen“ hier ausführlich wiedergegeben, weil sie, richtig verstanden und interpretiert, zum Schlüssel für das Verständnis der ursprünglichen Form der Begriffsbildung werden kann, die in der Sprache waltet. Die logische Tradition befindet sich diesem Problem gegenüber, wie gerade die Darlegungen Lotzes deutlich zeigen, in einem eigentümlichen Dilemma. Daß das Streben des Begriffs schlechthin auf Allgemeinheit gerichtet sein und daß seine Leistung zuletzt in der Gewinnung von Allgemeinvorstellungen bestehen müsse, steht ihr fest; aber es erweist sich nun, daß dies an sich überall gleichartige Streben nicht auch überall in der gleichen Weise erfüllbar ist. Eine doppelte Form des Allgemeinen muß demnach unterschieden werden: die eine, in der es gleichsam nur implizit, in der Form einer Beziehung, die die Einzelinhalte aufweisen, gegeben ist; die andere, in der es auch explizit, in der Art einer selbständigen anschaulichen Vorstellung


  1. [1] Lotze, Logik ², Lpz. 1880, S. 14 ff.; 29 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/265&oldid=- (Version vom 9.2.2023)