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Merkmale aller der Dinge, welche übereinstimmend Tiere, aller der Körper, welche Gase, aller der Handlungen, welche Diebstahl genannt werden, aufsucht. Ob es gelingt; ob diese Anweisung zur Begriffsbildung ausführbar ist, das ist eine andere Frage; sie ließe sich hören, wenn man voraussetzen könnte, daß es nirgends zweifelhaft ist, was man Tier, Gas, Diebstahl zu nennen habe, – d. h. wenn man den Begriff, den man sucht, in Wahrheit schon hat. Einen Begriff so durch Abstraktion bilden wollen, heißt also die Brille suchen, die man auf der Nase trägt, mit Hilfe eben dieser Brille[1].“ In der Tat bringt die Abstraktionstheorie die Frage nach der Begriffsform nur dadurch zur Lösung, daß sie, bewußt oder stillschweigend, auf die Sprachform rekurriert, womit indes das Problem nicht sowohl bewältigt, als vielmehr nur in ein anderes Gebiet zurückgeschoben ist. Der Prozeß der Abstraktion kann sich nur an solchen Inhalten vollziehen, die in sich schon irgendwie bestimmt und bezeichnet, die sprachlich und gedanklich gegliedert sind. Wie aber – so muß jetzt gefragt werden – kommt es zu dieser Gliederung selbst? Welches sind die Bedingungen jener primären Formung, die sich in der Sprache vollzieht und die für alle weiteren und komplexeren Synthesen des logischen Denkens die Grundlage bildet? Auf welchem Wege gelingt es der Sprache, dem Heraklitischen Fluß des Werdens, in dem kein Inhalt wahrhaft gleichartig wiederkehrt, zu entrinnen – sich ihm gleichsam gegenüberzustellen und aus ihm feste Bestimmtheiten herauszulösen? Hier liegt das eigentliche Geheimnis der „Prädikation“ als eines zugleich logischen und sprachlichen Problems. Nicht dies ist der Anfang des Denkens und Sprechens, daß irgendwelche in der Empfindung oder Anschauung gegebene Unterschiede einfach erfaßt und benannt, sondern daß bestimmte Grenzlinien selbständig gezogen, bestimmte Trennungen und Verknüpfungen vorgenommen werden, kraft deren sich nun aus der fließend immer gleichen Reihe des Bewußtseins klar geschiedene Einzelgestalten herausheben. Die Logik pflegt die eigentliche Geburtsstätte des Begriffs erst dort zu finden, wo durch bestimmte intellektuelle Operationen, insbesondere durch das Verfahren der „Definition“ nach genus proximum und differentia specifica, eine scharfe Abgrenzung des Bedeutungsgehalts des Wortes und eine eindeutige Fixierung desselben erreicht wird. Aber um zum letzten Ursprung des Begriffs zu gelangen, muß das Denken in eine noch tiefere Schicht zurückdringen, muß es die Motive der Verknüpfung und Trennung aufsuchen, die sich im Prozeß der Wortbildung selbst wirksam erweisen, und die


  1. [1] Sigwart, Logik ², I, 320 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/262&oldid=- (Version vom 9.2.2023)