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fehlt. Das Ziel der Wiederholung liegt in der Identität, – das Ziel der sprachlichen Bezeichnung liegt in der Differenz. Die Synthese, die sich in ihr vollzieht, kann sich nur als Synthesis des Verschiedenen, nicht des in irgendeiner Hinsicht Gleichen oder Ähnlichen, vollziehen. Je mehr der Laut dem, was er ausdrücken will, gleicht; je mehr er dieses Andere noch selbst „ist“, um so weniger vermag er es zu „bedeuten“. Nicht nur nach der Seite des geistigen Inhalts, sondern auch biologisch und genetisch ist hier die Grenze scharf gezogen. Schon bei den niederen Tieren begegnet uns eine Fülle ursprünglicher Gefühls- und Empfindungslaute, die sich sodann im Fortgang zu den höheren Arten mehr und mehr differenzieren, die zu bestimmt artikulierten und gegeneinander abgegrenzten „Sprachäußerungen“, zu Angst- oder Warnrufen, Lock- oder Paarungsrufen, sich entfalten. Aber zwischen diesen Ruflauten und den Bezeichnungs- und Bedeutungslauten der menschlichen Sprache bleibt nach wie vor die Trennung, bleibt ein „Hiatus“ bestehen, der gerade durch die schärferen Beobachtungsmethoden der modernen Tierpsychologie aufs neue bestätigt worden ist[1]. Der Schritt zur menschlichen Sprache ist – wie zuerst Aristoteles betont hat – erst getan, wenn der reine Bedeutungslaut vor den Affekt- und Erregungslauten den entscheidenden Primat gewonnen hat: ein Vorrang, der sich sprachgeschichtlich auch darin ausdrückt, daß viele Worte der entwickelten Sprachen, die auf den ersten Blick als bloße Interjektionen erscheinen, sich bei genauer Analyse als Rückbildungen aus komplexeren sprachlichen Gebilden, aus Worten oder Sätzen mit einer bestimmten begrifflichen Bedeutung, erweisen[2].

Allgemein läßt sich eine dreifache Stufenfolge aufweisen, in welcher sich dieses Heranreifen der Sprache zu ihrer eigenen Form, diese ihre


  1. [1] Für die „Sprache“ der höchstentwickelten Affen vgl. z. B. W. Köhler, Zur Psychologie des Schimpansen; Psychologische Forschung, Bd. I (1921) S. 27: „Auf welche Art sich die Tiere verständigen, ist im einzelnen nicht leicht zu beschreiben. Daß ihre phonetischen Äußerungen ohne jede Ausnahme „subjektive“ Zustände und Strebungen ausdrücken, also sogenannte Affektlaute sind und niemals Zeichnung oder Bezeichnung von Gegenständlichem anstreben, ist schlechthin gesichert. Dabei kommen in der Schimpansenphonetik so viel „phonetische Elemente“ der Menschensprache vor, daß sie gewiß nicht aus peripheren Gründen ohne Sprache in unserem Sinn geblieben sind. Mit Mienenspiel und Gesten der Tiere steht es ähnlich: nichts davon bezeichnet Objektives oder hat „Darstellungsfunktion“.“
  2. [2] Beispiele hierfür s. bei Sayce, Introduction to the science of language, London 1880, I, 109 f.; für den Kreis der indogermanischen Sprachen s. bes. K. Brugmann, Verschiedenheit der Satzgestaltung nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den idg. Sprachen, Lpz. 1918, S. 24 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/152&oldid=- (Version vom 3.10.2022)