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Übergang von der bloß nachahmenden zur darstellenden Gebärde zeigt, die nach Wundt dadurch charakterisiert ist, daß sich in ihr „das Bild eines Gegenstandes in einem ähnlichen Sinne freier gestaltet, wie es die bildende Kunst gegenüber der bloß nachahmenden Technik tut[1]“.

Aber in einer ganz neuen Freiheit und Tiefe, in einer neuen geistigen Aktualität tritt nun diese Funktion der Darstellung heraus, indem sie statt der Gebärde den Laut als Mittel und als sinnliches Substrat benutzt. In der geschichtlichen Entwicklung der Sprache vollzieht sich dieser Prozeß der Ablösung nicht unvermittelt. In den Sprachen der Naturvölker läßt sich noch heute deutlich erkennen, wie in ihnen die Gebärdensprache nicht nur neben der Lautsprache stehen bleibt, sondern wie sie diese selbst, ihrer Formung nach, noch entscheidend bestimmt. Überall findet sich hier jene charakteristische Durchdringung, dergemäß die „Wortbegriffe“ dieser Sprachen nur dann ganz erfaßt und verstanden werden können, wenn man sie zugleich als mimische und als „Handbegriffe“ (manual concepts) versteht. Die Gebärde ist mit dem Wort, die Hände sind mit dem Intellekt derart verknüpft, daß sie wahrhaft einen Teil von ihm zu bilden scheinen[2]. Auch in der Entwicklung der Kindersprache trennt sich der Laut nur ganz allmählich von der Gesamtheit der mimischen Bewegungen ab: selbst relativ hohe Stufen derselben zeigen ihn diesem mimischen Ganzen noch völlig eingebettet[3]. Aber sobald nun die Trennung vollzogen ist, hat die Sprache mit dem neuen Element, in dem sie sich nunmehr bewegt, auch ein neues Grundprinzip ihres Aufbaues gewonnen. In dem physischen Medium des Lautes erst entwickelt sich ihre eigentliche geistige Spontaneität. Beides bedingt sich jetzt wechselweise: die Gliederung der Laute wird zum Mittel für die Gliederung des Gedankens, wie diese letztere sich in der Ausbildung und Formung der Laute ein immer differenzierteres und empfindlicheres Organ erschafft. Allen sonstigen mimischen Ausdrucksmitteln gegenüber besitzt der Laut den Vorzug, daß er in weit höherem Maße als sie der „Artikulation“ fähig ist. Gerade seine Flüchtigkeit, die von der sinnlich-anschaulichen Bestimmtheit der Gebärde absticht, gibt ihm eine ganz neue Gestaltungsfähigkeit; macht ihn nicht nur dazu fähig, starre Bestimmtheiten der


  1. [1] Wundt, a. a. O., I, 156.
  2. [2] Über die „manual concepts“ der Zuñi-Indianer s. Cushing, Manual concepts (The American Anthropologist[WS 1] V, 291 f.) zum Zusammenhang von Gebärden- und Wortsprache bei den Naturvölkern s. bes. das reichhaltige Material bei Levy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1910 (deutsche Ausg., Wien 1921, S. 133 ff.).
  3. [3] Vgl. Clara und William Stern, Die Kindersprache ², Lpz. 1920, S. 144 ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Anthopologist
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/146&oldid=- (Version vom 20.8.2021)