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aus der die Sprache als Ganzes entspringt und durch die alle ihre Teile, vom elementarsten sinnlichen bis zum höchsten geistigen Ausdruck, miteinander zusammengehalten werden. Und nicht nur die geformte und artikulierte Lautsprache, sondern schon der einfachste mimische Ausdruck eines inneren Geschehens zeigt diese unlösliche Verflechtung – zeigt, daß dieses Geschehen keine in sich fertige und abgeschlossene Sphäre bildet, aus der das Bewußtsein nur gleichsam zufällig, zum Zweck der konventionellen Mitteilung an andere, heraustritt, sondern daß eben diese seine scheinbare Entäußerung einen wesentlichen Faktor seiner eigenen Bildung und Gestaltung ausmacht. Insofern hat die moderne Sprachpsychologie das Problem der Sprache mit Recht dem Problem einer allgemeinen Psychologie der Ausdrucksbewegungen eingeordnet[1]. Darin liegt, rein methodisch betrachtet, der wichtige Ansatz, daß mit diesem Ausgang von der Bewegung und vom Bewegungsgefühl der Kreis der Begriffsmittel, über die die traditionelle sensualistische Psychologie verfügt, im Grunde bereits überschritten ist. Vom Standpunkt der sensualistischen Ansicht ist der fixe und starre Zustand des Bewußtseins das Erstgegebene, ja im gewissen Sinne das Alleingegebene: die Prozesse des Bewußtseins werden, sofern sie überhaupt in ihrer Eigenart anerkannt und gewürdigt werden, auf eine bloße Summe, auf eine „Verbindung“ von Zuständen zurückgeführt. Wird dagegen die Bewegung und das Bewegungsgefühl als ein Element und als ein grundlegender Faktor im Aufbau des Bewußtseins selbst betrachtet[2], so liegt darin die Anerkennung, daß auch hier die Dynamik nicht auf die Statik, sondern diese auf jene zu gründen ist – daß alle „Wirklichkeit“ des Psychischen in Prozessen und Veränderungen besteht, die Fixierung zu Zuständen aber erst ein nachträgliches Werk der Abstraktion und Analyse darstellt. So ist auch die mimische Bewegung eine unmittelbare Einheit des „Inneren“ und des „Äußeren“, des „Geistigen“ und „Leiblichen“, sofern sie gerade in dem, was sie direkt und sinnlich ist, ein anderes, aber in ihr selbst Gegenwärtiges, bedeutet und „besagt“. Hier findet kein bloßer „Übergang“, keine willkürliche Hinzufügung des mimischen Zeichens zu dem


  1. [1] Ein vollständiges System der Ausdrucksbewegungen hat auf Grund der psychologischen und ästhetischen Untersuchungen des 18. Jahrhunderts schon J. J. Engel in seinen „Ideen zur Mimik“ (Schriften, Berlin 1801, T. 7 und 8) aufzustellen versucht; zur Fassung der Sprache als Ausdrucksbewegung s. im übr. bes. Wundt, Die Sprache ², I, 37 ff.
  2. [2] Dieser Gedanke vom „Primat der Bewegung“ ist mit besonderer Schärfe und Energie in der Psychologie Hermann Cohens vertreten worden; vgl. bes. Cohens Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. I, S. 143 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/140&oldid=- (Version vom 20.8.2021)