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– die Forderung, die Sprache nicht aus disparaten Elementen zusammenzusetzen, sondern in ihr stets den Ausdruck des „ganzen“ Menschen und seines geistig-natürlichen Seins zu sehen – in einer neuen Form wiederzukehren: aber es zeigt sich freilich zugleich, daß diese Forderung in dem, was hier die Einheit der „psychophysischen Natur“ des Menschen genannt wird, einstweilen nur eine vage Bezeichnung und eine unzureichende Erfüllung gefunden hat. Blickt man jetzt auf das Ganze der Entwicklung zurück, die die Sprachphilosophie von Humboldt bis zu den „Junggrammatikern“, von Schleicher bis Wundt durchlaufen hat, so sieht man, daß sie sich, bei aller Ausdehnung der besonderen Kenntnisse und Erkenntnisse, rein methodisch betrachtet, im Kreise bewegt hat. Die Sprachwissenschaft sollte auf die Naturwissenschaft bezogen, sollte an ihrem Aufbau orientiert werden, um in sich die gleiche Sicherheit wie diese zu finden, um den gleichen Gehalt exakter, unverbrüchlicher Gesetze zu erwerben. Aber der Begriff der Natur, auf den man sie zu stützen versuchte, erwies sich mehr und mehr als eine bloß scheinbare Einheit. Je schärfer er analysiert wurde, um so deutlicher wurde es, daß er selbst noch Momente von ganz verschiedener Bedeutung und Herkunft in sich barg. Solange das Verhältnis dieser Momente nicht durchschaut und nicht eindeutig bestimmt ist, solange sind die verschiedenen naturalistisch gefärbten Sprachbegriffe beständig in Gefahr, dialektisch in ihr Gegenteil umzuschlagen. Am Begriff des Lautgesetzes läßt sich diese Wandlung verfolgen: – denn wenn er anfangs dazu bestimmt war, die strenge und ausnahmslose Notwendigkeit zu bezeichnen, die in allen sprachlichen Veränderungen waltet, so wird er zuletzt dieser Bestimmung mehr und mehr entfremdet. Der Lautwechsel und Lautwandel erscheint so wenig als Ausdruck einer „blinden“ Notwendigkeit, daß er vielmehr auf bloß „statistische Zufallsregeln“ zurückgedeutet wird. Die angeblichen Gesetze der Natur werden in dieser Auffassung zu bloßen Gesetzen der Mode, die durch irgendeinen individuellen Willkürakt erschaffen, sich durch Gewohnheit festsetzen und durch Nachahmung weiter ausbreiten[1]. So birgt gerade jener Begriff, der der Sprachwissenschaft die feste und einheitliche Grundlage schaffen sollte, noch überall unvermittelte Gegensätze in sich, durch die die philosophische Betrachtung der Sprache vor neue Aufgaben gestellt wird.


  1. [1] Dies ist im wesentlichen die Auffassung der Lautgesetze, die B. Delbrück a. a. O. vertritt, s. Annalen der Naturphilosophie I, 277 ff.; bes. S. 297 ff. Zur Fassung der Lautgesetze als „Gesetze der Mode“ s. auch Fr. Müller: Sind die Lautgesetze Naturgesetze? in Techmers Zeitschrift I (1884), S. 211 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/134&oldid=- (Version vom 2.10.2022)