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erhalten. „Aller Lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen, d. h. die Richtung der Lautbewegung ist bei allen Angehörigen einer Sprachgenossenschaft … stets dieselbe und alle Wörter, in denen der der Lautbewegung unterworfene Laut unter gleichen Verhältnissen erscheint, werden ohne Ausnahme von der Änderung ergriffen[1].“

Aber wenn diese Anschauung der „junggrammatischen[WS 1] Richtung“ sich jetzt immer fester begründete und wenn sie der gesamten wissenschaftlichen Sprachbetrachtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr eigentliches Gepräge gab, so unterlag hierbei doch der Begriff des Lautgesetzes allmählich denselben Wandlungen, wie sie gleichzeitig in der Auffassung des allgemeinen Begriffs des Naturgesetzes zu erkennen sind. Die Forderung, das Naturgeschehen aus den allgemeinen Gesetzen des Mechanismus zu erklären, wird, je strengere Geltung das rein positivistische Ideal in der Wissenschaft erhält, mehr und mehr zurückgedrängt: an ihre Stelle tritt die bescheidenere Aufgabe, es in solchen Gesetzen zu beschreiben. Die Mechanik selbst ist jetzt – nach der bekannten Kirchhoffschen Definition – nichts anderes als die vollständige und eindeutige Beschreibung der in der Natur vor sich gehenden Bewegungsvorgänge[2]. Was sie gibt, sind nicht die letzten absoluten Gründe des Geschehens, sondern nur die Formen, in denen dies Geschehen verläuft. Mehr als einen solchen zusammenfassenden Ausdruck empirisch beobachteter Regelmäßigkeiten wird man demnach, wenn die Analogie zwischen Sprachwissenschaft und Naturwissenschaft sich behauptet, auch von den Gesetzen der Sprache nicht zu erwarten und nicht zu fordern haben. Auch hier wird es sich, wenn wir streng innerhalb des Kreises des tatsächlich Gegebenen stehen bleiben, nicht darum handeln können, die letzten Kräfte der Sprachbildung aufzuweisen, sondern lediglich bestimmte Gleichförmigkeiten an ihr durch Beobachtung und Vergleichung festzustellen. Damit aber gewinnt nun auch die angebliche „Naturnotwendigkeit“ der Lautgesetze einen anderen Charakter. „Nach allem, was erst die methodisch strenger gewordene Forschung unserer Tage ermittelt hat – so formuliert noch Osthoff im Jahre 1878 das Prinzip der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze – stellt sich das immer deutlicher heraus, daß die Lautgesetze der Sprachen geradezu blind, mit blinder Naturnotwendigkeit wirken, daß es Ausnahmen von


  1. [1] Osthoff und Brugmann, Morphologische Untersuchungen, I, Lpz. 1878, S. XIII; Leskien, a. a. O., Lpz. 1876, S. XXVIII.
  2. [2] Kirchhoff, Vorles. über mathematische Physik; Bd. I, Mechanik, S. 1, Berlin 1876.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: junggramatischen
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/131&oldid=- (Version vom 2.10.2022)