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der freien geistigen Sphäre, daß es gerade in der Natur am ungetrübtesten hervortritt.“ Sowie die Geschichte eintritt, der Geist den Laut nicht mehr erzeugt, sondern ihm gegenüber tritt und sich seiner als Mittel bedient, kann sich die Sprache nicht weiter entwickeln, im Gegenteil schleift sie sich jetzt mehr und mehr ab. Die Bildung der Sprachen fällt also vor die Geschichte, der Verfall der Sprachen dagegen in die historische Zeit[1].

Die Sprache ist daher das für den Menschengeist, was die Natur für den Weltgeist ist: der Zustand seines Andersseins. „Ihre Übereinstimmung mit der Geschichte beginnt mit ihrer Vergeistigung, von dem Zeitpunkte an, seitdem sie ihr Körperliches, ihre Form mehr und mehr verliert. Der naturwissenschaftliche Teil der Sprachenkunde ist daher, im Gegensatz zum historischen, der systematische.“ Wenn der Philologe, der die Sprache nur als ein Mittel braucht, um durch sie in das geistige Wesen und Leben der Völker einzudringen, es mit der Geschichte zu tun hat, so ist dagegen das Objekt der Linguistik die Sprache, deren Beschaffenheit ebensosehr außerhalb der Willensbestimmung des Einzelnen liegt, als es z. B. der Nachtigall unmöglich ist, ihr Lied mit dem der Lerche zu vertauschen. „Das aber woran der freie Wille des Menschen so wenig in organischer Weise etwas zu ändern vermag, als an seiner leiblichen Beschaffenheit, gehört nicht in das Gebiet des freien Geistes, sondern in jenes der Natur. Demzufolge ist auch die Methode der Linguistik von der aller Geschichtswissenschaften total verschieden und schließt sich wesentlich der Methode der übrigen Naturwissenschaften an … Wie die Naturwissenschaften, so hat auch sie die Erforschung eines Gebietes zur Aufgabe, in welchem das Walten unabänderlicher natürlicher Gesetze erkennbar ist, an denen der Wille und die Willkür des Menschen nichts zu ändern vermögen[2]“.

Man sieht: von hier aus bedurfte es nur noch eines Schrittes, um die Sprachbetrachtung völlig in die Naturbetrachtung, um die Sprachgesetze in reine Naturgesetze aufzulösen; – und diesen Schritt hat Schleicher, 25 Jahre später, in seiner Schrift „Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft“ getan. In dieser Schrift, die die Form eines „offenen Sendschreibens an Ernst Haeckel“ hat, wird der Gegensatz von „Natur“ und „Geist“, der bisher Schleichers Auffassung der Sprache und ihrer Stellung im System der Wissenschaften beherrschte, als unzeitgemäß fallen gelassen. Schleicher stellt fest, daß die Richtung des Denkens der Neuzeit


  1. [1] Sprachvergl. Untersuchungen II, 10 ff.; vgl. bes. I, 16 ff.
  2. [2] Sprachvergl. Untersuch. II, 2 f.; vgl. II, 21 ff. und I, 24 ff.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/126&oldid=- (Version vom 2.10.2022)