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handelt, statt einer allgemeinen Metaphysik der Sprache ihre spezielle Methodik zu begründen? Wenn darüber entschieden werden soll, ob die Gesetze der Sprache ihrem methodologischen Grundcharakter nach als naturwissenschaftliche oder als historische Gesetze zu bezeichnen sind; wenn der Anteil der physischen und der geistigen Faktoren an der Sprachbildung und deren gegenseitiges Verhältnis festgestellt werden, wenn schließlich bestimmt werden soll, wie weit bewußte und bewußtlose Prozesse in der Bildung der Sprache zusammenwirken, so scheint der bloße Begriff des „Sprachorganismus“ auf alle diese Fragen die Antwort schuldig bleiben zu müssen. Denn gerade die mittlere, sozusagen schwebende Stellung, die er zwischen „Natur“ und „Geist“, zwischen dem bewußtlosen Wirken und dem bewußten Schaffen einnimmt, scheint zu gestatten, ihn bald nach der einen, bald nach der andern Seite der Betrachtung hinüberzuziehen. Es bedarf nur einer leichten Verschiebung, um ihn aus dem labilen Gleichgewicht, in dem er sich hält, zu entfernen und ihm je nach der Richtung, in der diese Verschiebung erfolgt, einen veränderten Gehalt und eine veränderte, ja entgegengesetzte methodische Bedeutung zu geben.

Die Geschichte der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert stellt uns in der Tat den Prozeß, den wir hier allgemein und schematisch anzudeuten versucht haben, in konkreter Bestimmtheit vor Augen. Die Sprachwissenschaft vollzieht hier denselben Übergang, der sich gleichzeitig in der Geschichtswissenschaft und in der Systematik der Geisteswissenschaften überhaupt vollzieht. Der Begriff des „Organischen“ behält seine zentrale Stellung; aber sein Sinn und seine Tendenz erfährt eine durchgreifende Wandlung, seitdem dem Entwicklungsbegriff der romantischen Philosophie der biologische Entwicklungsbegriff der modernen Naturwissenschaft gegenübertritt. Indem in der Betrachtung der Lebensphänomene selbst der spekulative Begriff der organischen Form mehr und mehr durch ihren rein naturwissenschaftlichen Begriff zurückgedrängt wird, wirkt dies unmittelbar auf die Betrachtung der sprachlichen Phänomene zurück. Es ist insbesondere die wissenschaftliche Entwicklung August Schleichers, in welcher dieser geistige Wandlungsprozeß sich in typischer Deutlichkeit ausprägt. Denn Schleicher hat in seiner Auffassung der Sprache und der Sprachgeschichte nicht nur überhaupt den Schritt von Hegel zu Darwin vollzogen, sondern er hat auch all die Mittelstufen, die zwischen den beiden Anschauungen stehen, durchlaufen. In ihm können wir daher nicht nur Anfang und Ende, sondern auch die einzelnen Phasen jener Bewegung übersehen, kraft deren die spekulative

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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/123&oldid=- (Version vom 2.10.2022)