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diese im transzendentalen Subjekt und seiner Spontaneität gegründete und doch streng „objektive“, weil notwendige und allgemeingültige, Form der Verbindung zu kennzeichnen, hatte sich Kant selbst auf die Einheit des Urteils und damit mittelbar auf die Einheit des Satzes gestützt. Das Urteil ist ihm nichts anderes, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen; sprachlich aber drückt sich diese Einheit in der Kopula des Urteils, in dem Verhältniswörtchen „ist“ aus, das Subjekt und Prädikat verbindet. Durch dieses „Ist“ erst wird ein fester und unaufheblicher Bestand des Urteils gesetzt, wird ausgedrückt, daß es sich hier um ein Zusammengehören von Vorstellungen, nicht um ihr bloßes Zusammensein nach zufälligen psychologischen Assoziationen handelt[1]. Humboldts Formbegriff dehnt das, was hier für eine einzelne sprachliche Bestimmung ausgesprochen war, über das Ganze der Sprache aus. In jeder vollkommenen und durchgebildeten Sprache muß zu dem Akte der Bezeichnung eines Begriffs durch bestimmte materiale Merkmale noch eine eigene Arbeit und eine eigene formale Bestimmung hinzutreten, durch die der Begriff in eine gewisse Kategorie des Denkens versetzt, also z. B. als Substanz, als Eigenschaft oder Tätigkeit bezeichnet wird. Diese Versetzung des Begriffs in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist „ein neuer Akt des sprachlichen Selbstbewußtseins, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesamtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in möglichster Reinheit und Tiefe vollendete und der Sprache selbst fest einverleibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmelzung und Unterordnung, ihre selbständige, aus dem Denken entspringende und ihre mehr den äußeren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit folgende Tätigkeit[2]“. Auch hier sind indes Stoff und Form, Rezeptivität und Spontaneität – wie zuvor die Gegensätze des „Individuellen“ und „Allgemeinen“, des „Subjektiven“ und „Objektiven“ – nicht auseinanderfallende Stücke, aus denen sich der Prozeß der Sprache zusammensetzt, sondern notwendig zueinander gehörige Momente eben dieses genetischen Prozesses selbst, die sich nur in unserer Analyse voneinander scheiden lassen. Die Priorität der Form vor dem Stoff, die Humboldt mit Kant behauptet und die er am reinsten und schärfsten in den flektierenden Sprachen ausgedrückt findet, wird daher auch von ihm als ein Prius der Geltung, nicht als ein solches des empirisch-zeitlichen Daseins gefaßt, da im Dasein jeder Sprache, auch in den sogenannten „isolierenden“


  1. [1] a. a. O. § 19, S. 141 f.
  2. [2] Vorw. zum Kawiwerk W. VII, 1, 109.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/121&oldid=- (Version vom 2.10.2022)