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Mit dieser Auffassung der Objektivität als etwas, das nicht einfach gegeben und abzuschildern, sondern durch einen Prozeß der geistigen Formung zu erringen ist, ist nun auch das zweite Grundmoment der Humboldt’schen Sprachbetrachtung gefordert und gesetzt. Jede Betrachtung der Sprache muß „genetisch“ verfahren: nicht in dem Sinne, daß sie sie in ihrer zeitlichen Entstehung verfolgt und daß sie ihr Werden aus bestimmten empirisch-psychologischen „Ursachen“ zu erklären versucht, sondern in dem Sinne, daß sie das fertige Gefüge der Sprachbildung als ein Abgeleitetes und Vermitteltes erkennt, das erst verstanden wird, wenn es uns gelingt, es aus seinen Faktoren aufzubauen und die Art und Richtung dieser Faktoren zu bestimmen. Das Zerschlagen der Sprache in Wörter und in Regeln bleibt immer nur ein totes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung – denn das Wesen der Sprache beruht niemals auf diesen Elementen, die die Abstraktion und Analyse an ihr herausstellen, sondern ausschließlich auf der sich ewig wiederholenden Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Diese Arbeit setzt in jeder Einzelsprache je an besonderen Mittelpunkten an und breitet sich, von ihnen fortschreitend, nach verschiedenen Richtungen aus – und doch schließt sich zuletzt eben diese Mannigfaltigkeit der Erzeugungen zwar nicht zur sachlichen Einheit eines Erzeugnisses, wohl aber zur ideellen Einheit eines in sich gesetzlichen Tuns zusammen. Wie sich das Dasein des Geistes überhaupt nur in Tätigkeit und als solche denken läßt – so gilt dies auch von jedem besonderen Dasein, das nur durch ihn faßbar und möglich ist. Was wir das Wesen und die Form einer Sprache nennen, das ist daher nichts anderes, als das Beständige und Gleichförmige, das wir, nicht in einem Dinge, wohl aber in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, nachweisen können[1]. Selbst das, was an der Sprache als ihr eigentlich substantieller Bestand erscheinen könnte, selbst das einfache aus dem Satzzusammenhang gelöste Wort teilt daher nicht, wie eine Substanz, etwas schon Hervorgebrachtes mit, enthält auch nicht einen schon geschlossenen Begriff, sondern regt bloß an, diesen mit selbständiger Kraft und auf bestimmte Weise zu bilden. „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig ineinander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments


  1. [1] Einleitung zum Kawiwerk, W. VII, 1, S. 46 f.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/119&oldid=- (Version vom 2.10.2022)