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schienen hier in einem Punkt zusammenzustreben. Schon in der „Kritik der Urteilskraft“ erschien dieses Problem als der eigentliche „medius terminus“, durch den sich der dualistische Gegensatz zwischen den beiden Gliedern des Kantischen Systems versöhnte. Natur und Freiheit, Sein und Sollen, die zuvor nicht nur als getrennte, sondern als einander antinomisch gegenüberstehende Welten erscheinen konnten, waren jetzt durch dieses Mittelglied aufeinander bezogen – und in dieser Beziehung schloß sich für beide ein neuer Gehalt auf. Wenn Kant diesen Gehalt vor allem methodisch faßt, wenn er die beiden Extreme, im kritisch-transzendentalen Sinne, wesentlich als „Gesichtspunkte“ für die Betrachtung und Deutung des Ganzen der Erscheinungswelt bestimmt – so wird für Schelling der Grundbegriff des Organischen zum Vehikel einer allumfassenden spekulativen Welterklärung. Wie Natur und Freiheit, so wird Natur und Kunst in der Idee des Organischen geeint. Hier schließt sich die Kluft, die das unbewußte Werden der Natur vom bewußten Schaffen des Geistes zu trennen scheint – hier zuerst überfällt daher den Menschen eine Ahnung von der wahren Einheit seiner eigenen Natur, in welcher Anschauung und Begriff, Form und Gegenstand, Ideales und Reales ursprünglich ein und dasselbe ist. „Daher der eigentümliche Schein, der um diese Probleme ist, – ein Schein, den die bloße Reflexionsphilosophie, die nur auf Trennung ausgeht, nie zu entwickeln vermag, während die reine Anschauung oder vielmehr die schöpferische Einbildungskraft längst die symbolische Sprache erfand, die man nur auslegen darf, um zu finden, daß die Natur um so verständlicher zu uns spricht, je weniger wir über sie bloß reflektierend denken[1].“

Erst aus dieser systematischen Gesamtbedeutung, die die Idee des Organismus für die Philosophie der Romantik besaß, läßt sich ermessen, in welchem Sinne sie sich für die Betrachtung der Sprache fruchtbar erweisen mußte. Abermals traten hier die großen Gegensätze, um die sich diese Betrachtung bisher bewegt hatte, in aller Schärfe einander gegenüber: aber zwischen ihnen, zwischen dem „Bewußten“ und „Unbewußten“, zwischen „Subjektivität“ und „Objektivität“, zwischen „Individualität“ und „Allgemeinheit“ schien nun eine neue Vermittlung aufgewiesen. Für die Erklärung des organischen Lebens war der Begriff der „individuellen Form“ schon von Leibniz geprägt worden – und durch Herder war er sodann über die ganze Weite des geistigen Daseins ausgebreitet, war er von der Natur auf die Geschichte, von dieser auf die Kunst und auf die konkrete Betrachtung der Kunstarten und Kunststile


  1. [1] Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797); S. W. II, 47.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/113&oldid=- (Version vom 27.9.2022)