Grundkraft der „Besonnenheit“ gibt, und in der Rolle, die er ihr zuweist, knüpft Herder ersichtlich überall an jenen Grundbegriff an, der Leibniz’ Logik mit seiner Psychologie verbindet. Die Einheit des Bewußtseins ist nach Leibniz nur durch die des geistigen Tuns, nur durch die Einheit der Verknüpfung möglich, in der der Geist sich selbst als beharrliche und identische Monas erfaßt und in der er ferner ein und denselben Inhalt, wenn er ihm zu verschiedenen Zeiten entgegentritt, als ein und dasselbe Wesen wiedererkennt. Diese Form des „Wiedererkennens“ ist es, die bei Leibniz als Apperzeption, bei Herder als „Reflexion“, bei Kant als „Synthesis der Rekognition“ gefaßt wird. „Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen, sondern Eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Actus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das Erste Urtheil der Seele – und wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! lasset uns ihm das εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden[1]!“ In diesem Sinne kann für Herder die Sprache ganz als ein Erzeugnis der unmittelbaren Empfindung und zugleich ganz als ein Werk der Reflexion, der Besinnung gefaßt werden: weil eben diese letztere nichts äußeres ist, was nachträglich zum Inhalte der Empfindung hinzutritt, sondern weil sie in ihn als konstitutives Moment eingeht. Erst die „Besinnung“ ist es, die die flüchtige sinnliche Regung zu einem in sich Bestimmten und Unterschiedenen und damit erst zu einem eigentlich geistigen „Inhalt“ macht. Hier ist also nicht, wie bei Maupertuis und Condillac, die Perzeption ein in sich fertiges und in sich beschlossenes psychisches Sein, an das sich der Ausdruck im Begriff und im Begriffswort nur anschließt, sondern hier ist es ein und derselbe Akt, in dem die Bestimmung der bloßen Eindrücke zu
- ↑ [1] Über den Ursprung der Sprache (1772); (Suphan, V, 34 f.).
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/111&oldid=- (Version vom 27.9.2022)