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Sprache die Mutter der Vernunft und der Offenbarung, ihr Α und Ω.“ „Wenn ich auch so beredt wäre, wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache, λόγος. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich; ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel für diesen Abgrund[1].“ Hier erschließt sich für Hamann das eigentliche Wesen der Vernunft in seiner Einheit und in seiner inneren Gegensätzlichkeit. „Was Demosthenes actio, Engel Mimik, Batteux Nachahmung der schönen Natur nennt, ist für mich Sprache, das Organon und Criterion der Vernunft, wie Young sagt. Hier liegt reine Vernunft und zugleich ihre Kritik[2].“ Aber eben dieses Sein, an dem sich für uns der göttliche Logos unmittelbar zu offenbaren scheint, verschließt sich andererseits all dem, was wir in unserer Sphäre mit dem Namen der „Vernunft“ bezeichnen. Für die Sprache gilt, wie für die Geschichte, daß sie, „gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Rätsel ist, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem anderen Kalbe, als unserer Vernunft, zu pflügen[3].“ Denn die Sprache ist keine Sammlung diskursiver konventioneller Zeichen für diskursive Begriffe, sondern sie ist das Symbol und Widerspiel des gleichen göttlichen Lebens, das uns überall sichtbar-unsichtbar, geheimnisvoll und offenbar umgibt. Wie für Heraklit, so ist daher für Hamann in ihr alles zugleich Äußerung und Entäußerung, Enthüllung und Verhüllung. Die gesamte Schöpfung, die Natur wie die Geschichte, ist nichts anderes als eine Rede des Schöpfers an die Kreatur durch die Kreatur. „Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist Gottes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt, und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demut ist. Den allein weisen Gott in der Natur bloß bewundern, ist vielleicht eine ähnliche Beleidigung mit dem Schimpf, den man einem vernünftigen Mann erweist, dessen Wert nach seinem Rock der Pöbel schätzt.“ „Die Meinungen der Weltweisen sind Lesarten der Natur und die Setzungen der Gottesgelehrten Lesarten der Schrift. Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte; er mag durch Geschöpfe – durch Begebenheiten – oder


  1. [1] Hamann an Jacobi, Briefwechsel mit Jacobi, hg. von Gildemeister, Gotha 1868, S. 122; an Herder (6. August 1784), Schriften (Roth) VII, 151 f.
  2. [2] An Scheffner, 11. Febr. 1785, Schriften (Roth) VII, 216.
  3. [3] Sokrat. Denkwürdigkeiten, Schriften II, 19.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/109&oldid=- (Version vom 7.9.2022)