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aus seinem eigentümlichsten Werk, den verschiedenen Sprachen der Erde, möglich[1].“

Was Herder an Harris’ Sprachbetrachtung besonders anzog, war vielleicht der gleiche Zug, auf den er auch in seiner Beurteilung von Harris’ ästhetischer Theorie vor allem Gewicht legt. Der Aristotelische Unterschied von ἔργον und ἐνέργεια war durch Harris’ „Dialog über die Kunst“, auf den sich Herder schon in seiner frühesten Erörterung ästhetischer Probleme in den „kritischen Wäldern“ ausdrücklich beruft[2], wieder in den Mittelpunkt der Kunsttheorie gerückt worden. Von hier wirkt er auch auf die Sprachtheorie hinüber, in der er schließlich durch Wilhelm v. Humboldt seine bestimmteste Formulierung und seine streng systematische Fassung erhält. Die Sprache kann so wenig wie die Kunst als ein bloßes Werk des Geistes, sondern sie muß als eine ihm eigentümliche Form und „Energie“ gedacht werden. Beide Motive: die „energetische“ Sprachtheorie und die energetische Kunsttheorie fanden ihre ideelle Einigung wiederum im Begriff des Genies und in der charakteristischen Entwicklung, die er im 17. und 18. Jahrhundert erfuhr. Denn das Entscheidende für diese Entwicklung ist die durchgehende Tendenz, alles geistige Sein auf den ursprünglichen schöpferischen Prozeß, in dem es wurzelt, alle „Gebilde“ auf Grundformen und Grundrichtungen des „Bildens“ zurückzuführen[3]. Was die Sprache betrifft, so scheint auf den ersten Blick diese Tendenz schon in jenen empiristischen und rationalistischen Theorien des Sprachursprungs wirksam zu sein, die sie, statt sie als ein göttliches, mit einem Schlage fertiges Werk zu betrachten, vielmehr als eine freie Schöpfung der menschlichen Vernunft begreifen wollen. Aber da die Vernunft selbst hier durchweg den Charakter der subjektiv-willkürlichen Reflexion behält, so löst sich das Problem der „Bildung“ der Sprache alsbald wieder in das Problem ihrer „Erfindung“ auf. Es ist ein bewußt-zweckhaftes Verfahren, das der Mensch in der Erfindung der ersten Sprachzeichen und in ihrer Ausgestaltung zu Worten und Sätzen ausübt. Die Sprachtheorie der französischen


  1. [1] Vorr. zur Übers. des Monboddo (1784), Suphan XV, 183; in ähnlicher Weise wird auch in Herders „Metakritik“ (1799), Suphan XXI, 57, über Harris geurteilt. Den Wunsch eines deutschen Auszugs aus dem „Hermes“ hatte Herder schon 1772 in der Allg. Deutsch. Bibliothek ausgesprochen, Suphan V, 315.
  2. [2] S. Kritische Wälder III, 19 (Suphan Bd. III, S. 159 ff.) im Anschluß an Harris’ Three treatises the first concerning art, the second concern. music, painting and poetry etc. London 1744.
  3. [3] Vgl. hrz. m. Schrift Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, bes. Cap. 2 u. 4.
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Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/103&oldid=- (Version vom 12.9.2022)