Seite:Philosophie der symbolischen Formen erster Teil.djvu/100

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

– müssen bestimmte innere Maße (interior numbers) zugrunde liegen – denn die Form kann niemals aus dem Stoff erzeugt werden, sondern sie ist und besteht als ungewordene und unvergängliche, als rein ideelle Einheit, die der Vielheit, indem sie sich ihr aufprägt, erst ihre bestimmte Gestalt verleiht. Diese inneren und geistigen Maße, nicht die zufällige Existenz und die zufällige Beschaffenheit der empirischen Dinge, ist es, die der echte Künstler in seinem Werk darstellt. Ein solcher Künstler ist in der Tat ein zweiter Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. „Gleich jenem höchsten Künstler oder der allgemeinen bildenden Natur formt er ein Ganzes, das in sich selbst zusammenhängend und wohlgegliedert ist, mit richtiger Unterordnung aller Teile, die es konstituieren Der geistige Künstler, der so den Schöpfer nachzuahmen vermag und der so die innere Form und den Bau seiner Mitgeschöpfe kennt, wird auch sich selbst und jene Zahlen und Maße, die die Harmonie eines Geistes ausmachen, nicht verkennen.“ Was schon die Betrachtung jedes natürlichen organischen Körpers uns offenbart, das wird zur unwiderleglichen Gewißheit, sobald wir auf unser eigenes Ich, auf die Einheit unseres Bewußtseins hinblicken: daß jedes wahrhafte, in sich beständige Sein seine Gestalt nicht von den Teilen empfängt, sondern daß es als geformtes Ganze vor aller Teilung ist und wirkt. In seinem Ich vermag jeder von uns unmittelbar ein individuelles Formprinzip, vermag er seinen eigentümlichen „Genius“ zu erfassen, den er sodann, im Besonderen wie im Ganzen, als die stets verschiedene und doch mit sich identische formgebende Macht, als den „Genius des Universum“ wiederfindet. Beide Gedanken entsprechen und bedingen einander – die empirische Subjektivität drängt, wahrhaft verstanden und gedeutet, notwendig über sich selbst hinaus und mündet in den Begriff des „allgemeinen Geistes“ ein[1].

Was dieser ästhetisch-metaphysische Begriff der „inneren Form“ für die Anschauung der Sprache geleiset hat – das läßt sich an einem Werke deutlich machen, das unmittelbar aus dem Kreise des englischen Neuplatonismus hervorgegangen ist und seine allgemeine Weltansicht deutlich widerspiegelt. Harris’ „Hermes or a philosophical inquiry concerning universal grammar“ (1751) scheint sich, wenn man den Gesamtplan des Werkes betrachtet, zunächst noch ganz in den Bahnen der rationalistischen Sprachlehren zu bewegen, scheint noch das gleiche Ideal wie etwa die „Grammaire générale et raisonnée“ von Port Royal zu verfolgen. Auch


  1. [1] S. Shaftesbury, Soliloquy or Advice to an Author (Charakteristiks, ed. Robertson, 1900, I, 135 f.); vgl. bes. The Moralists, sect. V.
Empfohlene Zitierweise:
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. Bruno Cassirer Verlag, Berlin 1923, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Philosophie_der_symbolischen_Formen_erster_Teil.djvu/100&oldid=- (Version vom 12.9.2022)