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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

selbst, werden stolz und aufgeblasen, und die einzige Hoffnung auf Heilung beruht für sie darauf, dass sie niemals Gott vergessen[1]. 164 Denn wie beim Aufgehen der Sonne das Dunkel schwindet und alles von Licht erfüllt wird, ebenso muss, wenn Gott, die geistige Sonne, aufgeht und der Seele leuchtet, das Dunkel der Leidenschaften und Laster sich zerstreuen und das reine und kostbare Licht strahlender Tugend zum Vorschein kommen. 165 (23.) In dem Bestreben aber, den Hochmut noch mehr zu zügeln und ihn ganz zu beseitigen, fügt er den Grund hinzu, weshalb wir die Erinnerung an Gott unvergesslich im Herzen tragen müssen: „er verleiht dir ja“ sagt er „die Kraft, dir Macht zu verschaffen“ (5 Mos. 8,18) — eine sehr heilsame Lehre; denn wer genau erkannt hat, dass er als Geschenk von Gott seine Kraft und Stärke empfangen hat, der wird an seine Ohnmacht denken, die ihm vor Empfang dieses Geschenkes anhaftete, und wird darum den stolzen und hoffärtigen Sinn weit von sich weisen und dankbar sein dem Urheber der Wandlung, die ihn stärker machte. Ein dankbares Gemüt ist aber der Feind des Hochmuts, wie umgekehrt Undankbarkeit der Ueberhebung nahe verwandt ist. 166 Wenn, so sagt er, deine Verhältnisse erstarken, dadurch dass du Kraft empfängst und erwirbst, wie du sie vielleicht nicht erwartet hast, so verschaffe dir damit Macht. Was damit gemeint ist, muss denen, die es nicht ganz verstehen, genauer erläutert werden. Viele Menschen sind leicht geneigt das Gegenteil von dem zu tun, was man nach den Wohltaten, die sie selbst empfangen haben, von ihnen erwarten sollte: wenn sie nämlich reich geworden sind, bewirken sie bei anderen Armut, oder wenn sie zu grossem Ansehen und hohen Ehren gelangt sind, werden sie die Ursache, dass andere kein Ansehen haben und Geringschätzung erfahren. 167 Es müsste aber vielmehr der Kluge seine Nächsten so weit als möglich klug, der Besonnene müsste sie besonnen, der Tapfere tapfer, der Gerechte gerecht, und überhaupt der Gute sie gut machen. Denn darin besteht offenbar die Macht, nach


  1. Vgl. Philos Ausführungen über dieselbe Bibelstelle in der Schrift de sacrif. Abelis et Caini § 55 f.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/049&oldid=- (Version vom 1.8.2018)