Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn | |
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Milde und Güte bekundet und wie er sie zunächst allen Klassen von Menschen in reichem Masse zuwendet, auch Fremden oder Feinden, dann allen Arten von vernunftlosen Tieren, auch wenn sie zu den unreinen gehören, zuletzt allen Feld- und Baumpflanzungen. Denn wer zuvor gelernt hat Milde zu üben an Naturgegenständen, denen Bewusstsein fehlt, der wird sich auch an keinem mit Seele begabten Wesen versündigen, und wer gegen die beseelten (Tiere) nichts Schlimmes zu unternehmen wagt, der zieht daraus die weitere Lehre, der vernunftbegabten (Menschen) sich erst recht anzunehmen.
161 (22.) Durch solche Anweisungen veredelte der Gesetzgeber die Gemüter der in seinem Staate Lebenden und machte sie frei von Hochmut und Dünkel, diesen schlimmen und unangenehmen Lastern, an denen, als wären es grosse Tugenden, die meisten festhalten, ganz besonders wenn Reichtum, Ansehen und Herrschaft ihnen ein grosses Uebergewicht verschaffen. 162 Dünkel entsteht zwar auch bei Menschen ohne Ansehen und Achtung, ebenso wie alle anderen schlimmen Empfindungen, Schwächen und Krankheiten der Seele, er gelangt aber bei diesen nicht zu grösserem Wachstum, sondern vergeht [p. 403 M.] allmählich wie des Feuers Element aus Mangel an Brennstoff. Deutlich sichtbar wird er dagegen bei den Grossen, bei denen das Uebel, wie gesagt, Förderung erhält durch Reichtum, Ansehen und Herrschaft; in vollem Besitz dieser Dinge berauschen sie sich daran, wie wenn sie viel Wein zu sich genommen hätten, und lassen ihren Uebermut an Sklaven und Freien aus, bisweilen selbst an ganzen Staaten; „denn Sättigung erzeugt Uebermut“, wie es in dem alten Spruch heisst[1]. 163 Darum ermahnt uns unser trefflicher Lehrer Moses, dass wir uns von allen Versündigungen freihalten sollen, ganz besonders aber vom Hochmut. Er erinnert dabei an die Dinge, die diesen Charakterfehler hervorzurufen pflegen, an die masslose Ueberfüllung des Magens und den zu reichen Besitz an Häusern und Ländereien und Vieh (5 Mos. 8,11-14). Denn solche Menschen verlieren gleich die Herrschaft über sich
- ↑ Ein bekanntes griechisches Sprichwort, das zuerst in einer Elegie des athenischen Gesetzgebers und Dichters Solon (frg. 8) vorkam.
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/048&oldid=- (Version vom 1.8.2018)