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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

geschehen; denn es wäre der höchste Grad von Roheit, die Urheberin der Geburt mit dem von ihr geborenen Wesen an einem Tage zu töten. 135 Und zwar zu welchem Zweck? entweder doch unter dem Vorwande, sie als Opfer darzubringen, oder zum Zwecke leiblichen Genusses. Geschieht es nun zu Opferzwecken, so ist schon die Bezeichnung falsch; denn das ist ein Schlachten, kein Opfer. Wo gibt es denn auch einen Gottesaltar, der so unheilige Opfergaben annehmen wird? welches Feuer würde sich nicht zerteilen und auseinanderfallen aus Scheu vor der Verbindung mit einer Sache, mit der es nicht in Berührung kommen darf? Ich glaube, es würde das nicht eine kleine Weile aushalten, sondern sofort verlöschen, sorglich darauf bedacht, dass nicht die Luft und die heilige Natur des Odems durch die aufsteigende Flamme befleckt werde. 136 Wenn sie aber nicht zu Opferzwecken, sondern zum Mahle geschlachtet werden sollen, wird da nicht jeder ein so unerhörtes und ungewöhnliches Verlangen übermässiger Gefrässigkeit verabscheuen? Ganz sonderbar sind die Gelüste, die solche Menschen zu befriedigen suchen. Was für ein Vergnügen kann beim Fleischessen darin bestehen, das Fleisch einer Mutter und ihres Jungen zusammen zu geniessen? Mir scheint sogar, ihre Glieder würden, wenn einer sie untereinander mischen und an den Spiess stecken wollte, um sie zu braten und dann zu verzehren, nicht ruhig bleiben, sondern vor Empörung über eine so unerhörte Grausamkeit ihre Stimme erheben und laut schelten über die Gefrässigkeit von Menschen, die ein so ungeniessbares Mahl rüsten. 137 Das Gesetz dagegen schliesst von der geweihten Stätte auch die Tiere aus, die trächtig sind, und gestattet nicht sie als Opfer darzubringen, ehe sie geboren haben[1]: es stellt die Frucht im Mutterleibe mit dem bereits geborenen Tiere gleich, nicht deshalb weil etwa die noch nicht ans Tageslicht getretene Frucht den gleichen Wert hätte, sondern


  1. In der Bibel findet sich eine solche Vorschrift nicht. Philo scheint angenommen zu haben, dass sie in dem eben erwähnten Verbot, Mutter und Junges an einem Tage zu schlachten, mitinbegriffen ist. Auch bei den Karäern ist das Schlachten trächtiger Tiere verboten. In der Mischna (Para 2,1) wird erwähnt, dass die Rabbinen eine Bestimmung, wie sie Philo allgemein angibt, bei der „roten Kuh“ (4 Mos. 19,2 ff.) anwenden wollten. Ritter S. 109 f.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/041&oldid=- (Version vom 1.8.2018)