Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn | |
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bekannten Menschen in der Einsamkeit umherirren siehst, so führe ihn zu ihm und gib ihn ihm ab; und wenn der Eigentümer weit entfernt wohnt, so hüte ihn bei deinem Vieh, bis dieser kommt und sich holt, was er dir nicht zur Aufbewahrung anvertraut hat, was du aber, nachdem du es gefunden, aus natürlichem Gefühl für die menschliche Gemeinschaft von selbst zurückgibst (5 Mos. 22,1–3).
97 (11.) Die gesetzlichen Bestimmungen über das siebente Jahr (2 Mos. 23,10.11. 3 Mos. 25,3ff.), in welchem man das Land ganz brach liegen lassen soll und die Armen nach Belieben die Äcker der Reichen betreten dürfen, um die als Geschenk der Natur von selbst wachsende Frucht zu ernten, — zeigen die nicht Güte und Menschenfreundlichkeit? 98 Sechs Jahre hindurch, sagt er, sollen die Besitzer den Genuss haben von den Äckern, die sie erworben und bearbeitet haben, in einem Jahre aber, im siebenten, die Besitz- und Vermögenslosen, ohne dass irgendwelche Feldarbeit verrichtet wird. Denn es wäre ja eine Ungerechtigkeit, wenn die einen das Feld bebauten und andere die Früchte davon bekämen. Vielmehr sollten die Äcker gewissermassen herrenlos gelassen werden, da keine Feldarbeit darauf verwendet wurde, und die Gaben zweckmässig und vollständig von Gott allein kommen und den Bedürftigen zuteil werden[1]. 99 Vollends aber die [392 M.] Verordnungen über das fünfzigste Jahr (3 Mos. 25,8 ff.), übertreffen sie nicht alles an Menschenfreundlichkeit? Wer kann das leugnen von denen, die nicht nur mit dem Lippenrand von der (Mosaischen) Gesetzgebung gekostet[2], sondern in weiterem Masse an ihren schmackhaften und schönen Lehren sich gesättigt und ergötzt haben? 100 Für das fünfzigste Jahr gelten nämlich dieselben Vorschriften wie für das siebente, es bringt aber dazu noch etwas Wichtigeres[3], nämlich die Zurücknahme des eigenen Besitztums, das man infolge ungünstiger Verhältnisse anderen überlassen hatte. Einerseits nämlich gestattet der Gesetzgeber nicht ewigen Besitz fremden Eigentums und versperrt deshalb die Wege zur Habsucht, um die hinterlistige
Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/031&oldid=- (Version vom 31.10.2017)