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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn

und bedürfen zugleich des Lichtes von aussen[1], die Einsicht dagegen dringt auch in die Tiefe der Körper ein, erforscht sie durch und durch in allen ihren Teilen und beobachtet auch das Wesen der unkörperlichen Dinge, das die sinnliche Wahrnehmung nicht zu sehen vermag; sie besitzt nahezu die ganze Sehschärfe des Auges, ohne des unechten Lichtes zu bedürfen, denn sie ist selbst ein Stern und beinahe ein Abbild und eine Nachahmung der Himmelskörper. 13 Krankheiten des Körpers endlich schaden wenig, wenn die Seele gesund ist. Die Gesundheit der Seele aber besteht in der guten Mischung der Kräfte, die im Gemüt, im Begehrungsvermögen und im Denkvermögen enthalten sind, wofern nämlich die Denkkraft die Herrschaft führt und die beiden anderen wie widerspenstige Rosse am Zügel hält. 14 Der dieser Gesundheit eigentümliche Name ist [378 M.] Besonnenheit, weil sie Heil schafft dem denkenden Teil in uns[2]; denn sie lässt den Verstand, der oft in Gefahr ist vom Sturm der Leidenschaften hingerissen zu werden, nicht ganz versinken, sondern zieht ihn hinauf und hebt ihn hoch empor, beseelt und belebt ihn und macht ihn gewissermassen unsterblich. 15 Ueber alles Gesagte aber sind in der (Mosaischen) Gesetzgebung an vielen Stellen Anweisungen und Lehren verkündigt, die die Gehorsamen in milden und die Ungehorsamen in strengeren Worten zu überreden suchen, die körperlichen und die äusseren Güter[3] zu verachten, ein Ziel als erstrebenswert anzusehen, das tugendhafte Leben, und mit Eifer alles zu verfolgen, was darauf hinführt. 16 Und wenn ich nicht schon in den früheren Büchern[4] alles besprochen hätte, was zur Bescheidenheit gehört, so würde ich im gegenwärtigen Augenblick versuchen, in längerer Ausführung die zerstreut an


  1. Aristoteles (de anima II 7 p. 418 b) lehrte zuerst, dass die Augen des Lichts bedürfen, um sehen zu können.
  2. Philo benutzt hier die von Plato Cratyl. p. 411 e gegebene Etymologie von σωφροσύνη (Besonnenheit) als σωτηρία φρονήσεως (Rettung des vernünftigen Denkens).
  3. Vgl. Ueber Abraham § 219 und die Anm. dazu.
  4. Philo vertritt an zahlreichen Stellen seiner Schriften die stoisch-kynischen Grundsätze einer einfachen und bescheidenen Lebensweise. Vgl. Wendland und Kern, Beitr. z. Gesch. d. griech. Philos. u. Religion S. 8 ff.
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Philon: Ueber die Tugenden (De virtutibus) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1910, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonVirtGermanCohn.djvu/011&oldid=- (Version vom 31.10.2017)