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Philon: Ueber Joseph (De Josepho) übersetzt von Leopold Cohn

Prüfung erdacht und die Anklage gegen den Jüngsten wegen vermeintlicher Entwendung des Bechers veranlasst; denn hier musste der klarste Beweis geliefert werden für die Gesinnung eines jeden und für ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu dem fälschlich angeklagten Bruder[1]. 236|Aus alledem gewann er jetzt die Ueberzeugung, dass das mütterliche Haus[2] durch keinen Zwist und keine Nachstellungen bedroht sei; und zugleich kam er über das, was ihm selbst widerfahren war, zu dem einleuchtenden Schluss, dass er es nicht sowohl durch die feindlichen Anschläge der Brüder zu erdulden hatte als nach dem Ratschluss der Vorsehung Gottes, der weit blickt und die Zukunft nicht minder als die Gegenwart im Auge hat. 237|(40.) Nun war er überwältigt von seinem verwandtschaftlichen Gefühl und schritt rasch zur Wiederversöhnung mit ihnen; und um die Brüder nicht zu beschämen wegen ihrer Handlungsweise, wünschte er, dass keiner von den Aegyptern bei der ersten Wiedererkennung zugegen sei. 238|Er befahl deshalb der ganzen Dienerschaft hinauszugehen; dann brach er plötzlich in eine Flut von Tränen aus, gab ihnen mit der Rechten ein Zeichen, näher heranzutreten, damit nicht zufällig ein anderer ihn hören könnte, und sprach zu ihnen: „Eine verborgene und lange Zeit mit Schweigen bedeckte Sache will ich euch enthüllen und rede deshalb allein mit euch allein: der Bruder, den ihr nach Aegypten verkauft habt, bin ich selbst, den ihr jetzt vor euch stehen sehet“. 239|Da sie über diese unerwartete Kunde erschrocken und bestürzt waren und wie infolge eines gewaltsamen Stosses die Augen zur Erde senkten und stumm und starr dastanden, fuhr er fort; „Betrübet euch nicht, Verzeihung gewähre ich euch für alles, was ihr p. 75 M. an mir getan, suchet nicht nach einem andern Fürsprecher; 240|ungeheissen und freiwillig komme ich zur Versöhnung mit euch, ich folge zwei Ratgeberinnen, der Pietät gegen den Vater,


  1. Vgl. Joseph. Altert. II §125: „er tat dies, weil er die Brüder auf die Probe stellen wollte, ob sie dem Benjamin, wenn er des Diebstahls beschuldigt würde, zur Seite stehen oder ihn verlassen und im Bewusstsein ihrer eigenen Unschuld zu dem Vater zurückkehren werden“.
  2. Das Haus (die Familie) der Rahel, dem Joseph und Benjamin angehörten.
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Philon: Ueber Joseph (De Josepho) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonJosGermanCohn.djvu/053&oldid=- (Version vom 6.9.2017)