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Philon: Ueber Joseph (De Josepho) übersetzt von Leopold Cohn

grosse Vorteile, wenn sie denken Schaden zu erleiden. 140|So p. 61 M. unsicher sind die Schicksale nach beiden Seiten, die menschlichen Verhältnisse schwanken wie auf einer Wage hin und her und werden infolge des ungleichen Gewichts bald hinauf bald hinuntergezogen. Arge Ungewissheit und dichtes Dunkel ist über die Dinge ausgebreitet; wie in tiefem Schlaf irren wir umher und können mit der Schärfe des Verstandes nichts durchdringen oder kräftig und fest erfassen, denn alles gleicht Schatten und Gespenstern. 141|Und wie bei Festzügen die ersten flüchtig den Blicken entschwinden und bei reissenden Strömen die einzelne Welle vorüberzieht und wegen ihrer Schnelligkeit der Wahrnehmung entgeht, so ist es auch mit den Verhältnissen im Leben, sie kommen und gehen vorüber und haben nur scheinbar Bestand, in Wirklichkeit bleiben sie nicht einen Augenblick, sondern entfernen sich immer wieder. 142|Auch die Wachen, die, was die Unsicherheit im Begreifen der Dinge betrifft, sich in nichts von den Schlafenden unterscheiden, täuschen sich, wenn sie glauben imstande zu sein, die Natur der Dinge durch unfehlbare Schlüsse zu erkennen; ihrem Begreifen stehen alle Sinne im Wege, die bestochen sind durch das, was sie sehen, hören, schmecken und riechen; wenn sie sich diesen Dingen zuwenden, ziehen sie auch die ganze Seele mit sich fort und lassen sie nicht sich erheben und ungefährdet wie auf gebahnten Wegen vorwärtsschreiten; und so bringen sie in ihr die Vorstellung von hoch–niedrig und gross–klein[1] hervor und von allem, was mit Ungleichheit und Unregelmässigkeit zusammenhängt, und bewirken mit Gewalt, dass ihr ganz schwindlig wird. 143|(24.) Da nun so das Leben voll ist von Unruhe und Unordnung und Ungewissheit, muss der Staatsmann auftreten und wie ein kluger Traumdeuter die am hellen Tage eintretenden Träume und Erscheinungen der anscheinend wachenden Menschen deuten und mit glaubhaften Vermutungen und vernünftigen Gründen über alles belehren, dass dies schön, jenes hässlich sei, dies gut, jenes schlecht, dies gerecht, das Gegenteil ungerecht,


  1. Die vielleicht von Philo selbst gebildeten Worte ὑψηλοτάπεινον und μεγαλόμικρον beziehen sich auf die skeptische Lehre von der Relativität der Eigenschaften der Dinge.
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Philon: Ueber Joseph (De Josepho) übersetzt von Leopold Cohn. Breslau: H. & M. Marcus, 1909, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhilonJosGermanCohn.djvu/034&oldid=- (Version vom 5.9.2017)