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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

wir glauben, daß der allein gerechte Gott alles mißt und wägt und durch Zahlen, Grenzen und Markzeichen die Natur des Alls umgrenzt hat, ein unrichtiger und falscher aber ist es zu meinen, daß das alles nach dem menschlichen Geiste geschehe.

195 Als aber der Eunuch und zugleich Mundschenk des Pharao die den Unverstand erzeugende Pflanze, den Weinstock, im Traume gesehen hatte, gibt er noch dazu eine Schilderung von drei Wurzeln, um die den drei Zeiten[1] entsprechenden äußersten Grenzen beim Sündigen mitanzudeuten. Wurzel nämlich bedeutet das Äußerste. [30] [685 M.] 196 Wenn nun Unverstand die ganze Seele beschattet hat und gefangen hält und keinen ihrer Teile los und frei gelassen hat, zwingt er sie nicht nur dazu, alle wieder gut zu machenden Sünden zu tun, sondern auch alle unheilbaren. 197 Die nun, die für Heilung empfänglich sind, werden als leichteste und erste beschrieben, die unheilbaren aber als schwerste und letzte, Wurzeln vergleichbar. 198 Und wie, meine ich, die Einsicht mit den geringeren Vorteilen beginnt, aber mit dem Übermaß der vollkommenen Pflichten endet, auf dieselbe Weise bewältigt auch der Unverstand die Seele von oben her, entfremdet sie in kurzer Zeit ihrer Erziehung, siedelt sie fern von der rechten Vernunft an und reißt sie bis zu den äußersten Grenzen hinab. 199 Der Traum aber offenbarte, daß der Weinstock nach den drei Wurzeln Blüten und Zweige treibt und Früchte trägt – „er selbst“, heißt es nämlich, „blühte und hatte Zweige getrieben; reif waren seine Trauben“ (1 Mos. 40, 10) –, er, dem es zukam, der Unfruchtbarkeit zu verfallen, niemals grünes Laub zu tragen und in alle Ewigkeit vertrocknet zu sein.[2] 200 Denn was für ein größeres Übel könnte es geben als einen blühenden und fruchtbringenden Unverstand? Aber auch „der Becher des Pharao“, der Behälter der Torheit und der Betrunkenheit und des das ganze Leben nicht aufhörenden Rausches, ist, heißt es, „in meiner Hand“ (1 Mos. 40, 11), das heißt so viel wie: in meinen Unternehmungen, Plänen und Kräften; denn ohne meine Gedanken wird die Leidenschaft nicht aus sich selbst heraus ihren freien Lauf gehen. 201 Wie nämlich in den Händen des Wagenlenkers die Zügel liegen müssen, in denen des


  1. Auf die „drei Zeiten“ (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) kommt Philo, weil es dann 40, 12 heißt: „Drei Wurzeln (Reben) sind drei Tage“.
  2. Statt des korrupten εἴθε möchte ich ἔδει lesen, was immer noch einen besseren Sinn gibt als die andern Konjekturen.
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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/97&oldid=- (Version vom 7.1.2019)