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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

aber für die ganze. 157 Es zieht aber auch der eine Teil den andern nach sich; denn die gegessen haben, werden auch sofort zum Trinken angeregt, und die getrunken haben, sogleich zum Essen, so daß nicht zum wenigsten auch aus diesem Grunde für beide dieselbe Zeit des Traumes angesetzt ist. 158 Der Obermundschenk hat nun die Trunksucht, der Oberbäcker die Gefräßigkeit als seinen Beruf erlost. Es sieht aber im Traume jeder von beiden das ihm Entsprechende, der eine den Wein und die den Wein erzeugende Pflanze, den Weinstock, der andere aber in Körben liegende reinliche Brote und sich selber die Körbe tragend (1 Mos. 40, 16. 17). 159 Es dürfte wohl das Richtige sein, zuerst den ersten Traum zu untersuchen; er ist folgender: „In meinem Schlafe stand ein Weinstock mir gegenüber. An dem Weinstock aber waren drei Wurzeln, und er selbst blühte und hatte Zweige getrieben; reif waren seine Trauben. Und ich hielt den Becher des Pharao in meiner Hand; [680 M.] und ich nahm die Traube und zerdrückte sie in den Becher, und ich gab den Becher in die Hände des Pharao“ (1 Mos. 40, 9–11). 160 Bewundernswert und wahrheitsgemäß sind die vorausgeschickten Worte: „In meinem Schlafe“. Tatsächlich ist ja ein Mensch, der sich weniger dem durch Wein als dem durch Unvernünftigkeit verursachten Rausche hingibt und gegen das Aufrechte und Wache eingenommen ist, wie die Schlafenden zu Boden gestreckt, ist erschlafft und hat die Augen der Seele geschlossen, außerstande, etwas von dem zu sehen oder zu hören, was des Sehens und Hörens wert ist. 161 Vom Schlafe[1] bezwungen aber geht er die dunkle und führerlose, nicht Bahn, sondern Bahnlosigkeit des Lebens dahin, von Dornen und Disteln durchstochen, manchmal auch von Berghängen stürzend und auf andere fallend, so daß er sie und sich selbst jämmerlich zugrunde richtet. 162 Der tiefe und ausgedehnte Schlaf aber, durch den jeder Tor gefesselt wird, nimmt (ihm) die wahren Vorstellungen weg, erfüllt seinen Geist mit trügerischen Gebilden und unsicheren Traumbildern und verleitet ihn dazu, das Vorwurfsvolle hinzunehmen, als sei es etwas Löbliches. Denn auch jetzt träumt er von einem Leid wie von einer Freude und merkt es nicht, daß er die Pflanze sieht, die am Unverstand und am Irrtum schuld ist, nämlich den Weinstock. 163 „Es stand“, heißt es ja, „ein Weinstock mir gegenüber“ (1 Mos. 40, 9), das Begehrte


  1. Nach Wendlands Konjektur ἡττημένος δὲ <ὕπνου>; der überlieferte Wortlaut gibt aber ohne diese schiefe Ergänzung einen guten Sinn: „Als ein Besiegter“, „niedergebeugt“.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/90&oldid=- (Version vom 7.1.2019)