Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler | |
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neigten sich vor meiner Garbe“ (ebd.). Es staunt nämlich an der Liebhaber der Ehrfurcht den Unbeugsamen, der Vorsichtige den Kühnen, der die Gleichheit Schätzende den, der sich selbst und andern gegenüber nicht gleich bleibt, und vielleicht mit Recht. 81 Denn der Edle, der ja nicht nur ein Betrachter des menschlichen Lebens, sondern auch aller Dinge in der Welt ist, weiß, wie stark der Wind der Notwendigkeit, des Zufalls, günstiger Gelegenheit, des Zwanges und der Macht zu wehen pflegt und wieviel Pläne und welch himmelstürmendes Glück sie erschütterten und niederrissen, 82 so daß er die Vorsicht als seinen Schild nötig brauchen wird, den angeborenen Schutz vor unerwartetem, schwerem Leid. Denn, glaube ich, was die Mauer für eine Stadt bedeutet, das ist die Vorsicht für jedermann. 83 Sind nun nicht alle die verrückt und wahnsinnig, die sich bemühen, eine unpassende Freimütigkeit an den Tag zu legen, und es wagen, Königen und Tyrannen bei Gelegenheit zu widersprechen und zuwiderzuhandeln, ohne zu merken, daß sie nicht nur wie die Tiere mit ihren Nacken unter das Joch gebeugt wurden, sondern mit ihren ganzen Leibern und [670 M.] Seelen, mit Weibern und Kindern und Eltern und der zahlreichen Verwandtschaft und Gemeinschaft von Gefährten und Geschwistern gebunden sind und daß es in der Macht des Führers und Lenkers steht, sie mit aller Leichtigkeit anzuspornen, zu treiben, aufzuhalten und zurückzuhalten, und ihnen alles, was er will, kleines und größeres, anzutun? 84 So werden sie denn gestochen, gegeißelt und verstümmelt, und wenn sie alles zusammen, was schlimmer ist als der Tod, grausam und unbarmherzig erduldet haben, abgeführt, um schließlich zu sterben. [13] 85 Das ist der Lohn für den zu unpassender Gelegenheit geäußerten Freimut, nicht der für Freimut vor verständigen Richtern, sondern der voller Torheit, Wahnsinn und unheilbarem Trübsinn. Was meinst du? Wenn einer ein aufziehendes Unwetter sieht, einen starken Gegenwind bemerkt, einen niederprasselnden Regen und ein heftig wogendes Meer, bricht er da, wo er doch im Hafen bleiben müßte, auf und fährt auf hohe See? 86 Welcher Steuermann oder Kapitän wäre je so betrunken und von Sinnen gewesen, daß er, wenn alles dies hereinbräche, was ich sagte, noch auf See fahren wollte, damit das Schiff, wenn das Meer von oben darauf stürzt, voll geworden mit den Schiffern selbst verschlungen wird? Wer gefahrlos segeln will, konnte doch einen ruhigen, günstigen und sanften Wind abwarten. Und wie? 87 Wenn einer sieht, wie ein Bär
Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/77&oldid=- (Version vom 7.10.2018)