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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

bald „Höhlungen“, wobei mit beiden Namen[1] eine einzige Sache bezeichnet wird. 42 Denn aus unserem Körper ist für die Sinnesorgane gleichsam etwas ausgegraben worden, und jedes Organ ist so etwas wie ein Loch für jeden Sinn, in dem er sich zu verbergen pflegt. [627 M.] Wenn nun einer aus dem Brunnen, der da „Eid“ genannt wird, wie aus einem Hafen hinausgefahren ist, muß er alsbald nach Haran gelangen; denn wer aus dem besten und unendlich großen Lande, dem des Wissens, auswandert, den müssen, zumal da er ohne Führer ist, die Sinne aufnehmen. 43 Es bewegt sich nämlich unsere Seele oft selbsttätig, nachdem sie die ganze Körperlast abgestreift hat und der ganzen Schar der Sinne davongelaufen ist, oft aber auch in diese eingehüllt. Ihre nackte Bewegung nun zogen die Dinge an sich, die allein durch Denken erkennbar sind, die mit dem Körper verbundene dagegen die sinnlich wahrnehmbaren. 44 Wenn nun einer mit dem Denken allein gar nicht umgehen kann, so findet er als zweite Zuflucht die Sinnlichkeit, und wer das Geistige verfehlt, wird zum Sinnlichen herabgezogen; denn immer geht die zweite Fahrt zur Sinnlichkeit bei denen, die keine glückliche Reise zum führenden Geist vollbringen können. 45 Es ist nur gut, daß sie bei ihrem Aufenthalte dort nicht alt werden und ewig dableiben, sondern weil sie in der Fremde weilen, wie Ausländer immer auf Auswanderung bedacht sind und auf Rückkehr in das väterliche Land. Laban nämlich, der weder einen Art- noch einen Gattungsbegriff, keine Idee, keinen Gedanken und auch sonst überhaupt nichts von dem kannte, was allein durch Denken erfaßt wird, sondern an den sichtbaren Dingen hing, die auf die Augen und Ohren und die ihnen verwandten Sinneskräfte wirken, der erhielt seinem Wert gemäß Haran zum Vaterland, das der tugendliebende Jakob wie ein fremdes Land nur auf kurze Zeit bewohnte, immer auf die Rückreise nach Hause bedacht. 46 Es sagt daher zu ihm seine Mutter Rebekka, die Geduld: „Mache dich auf und fliehe zu Laban, meinem Bruder, nach Haran und wohne bei ihm einige Tage“ (1 Mos. 27, 43. 44). Siehst du also, daß der Ringer es nicht erträgt, im Lande der Sinne dauernd zu leben, sondern nur wenige Tage und eine kurze Zeit um der nötigen Bedürfnisse des mit ihm verbundenen Körpers willen, während ihm die lange Zeit seines Lebens vorbehalten wird in der geistigen Stadt?


  1. In Wahrheit ergeben sich beide Deutungen, von denen sich die erste nur hier, die zweite sonst häufig findet, aus der Gleichsetzung חרן‎ = חור‎ „Loch“.
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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/20&oldid=- (Version vom 7.10.2018)