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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler

als den besseren Teil an uns selbst meint. Dem Fluß Ägyptens nämlich wird unser Körper gleichgesetzt und die in ihm und durch ihn entstehenden Leidenschaften, dem Euphrat aber die Seele und was ihr lieb ist. 256 Es wird demnach als lebenswichtigste und umfassendste Lehre aufgestellt, daß der Weise als Los die Seele und die Seelentugenden erhielt, sowie der Tor andererseits den Körper und die körperlichen und durch den Körper entstehenden Laster. 257 Das Wort „von“ aber bezeichnet zweierlei: erstens einschließlich der Sache, von der aus gerechnet wird, zweitens aber ausschließlich derselben. Wenn wir nämlich sagen, von der Morgenstunde bis zum Abend seien zwölf Stunden und vom Monatsanfang bis zum Dreißigsten seien dreißig Tage, beziehen wir die erste Stunde und den Monatsanfang mit ein; wenn aber einer sagt, [693 M.] der Acker liege drei oder vier Stadien von der Stadt entfernt, so meint er das sicherlich, ohne die Stadt mitzurechnen. 258 So ist auch hier anzunehmen, daß unter den Worten „von dem Flusse Ägyptens“ die Entfernung ausschließlich des Flusses zu verstehen ist; denn er will, daß wir nach der Trennung vom Körperlichen, das sich unserm Anblick als im Zustand des Fließens und der zugrundegehenden und zugrunderichtenden Vergänglichkeit darstellt, das Ackerlos der Seele in Empfang nehmen mit den unvergänglichen und der Unvergänglichkeit würdigen Tugenden. 259 So haben wir allerdings bei unserer Suche gefunden, daß die lobenswerte Rede einem Flusse gleicht. Die tadelnswerte selbst aber war eben der ägyptische Fluß, eine Art führungslose und unwissende, eine sozusagen seelenlose Rede. Deshalb verwandelt sie sich auch in Blut (2 Mos. 7, 20), da sie nicht zu nähren vermag – denn die Rede der Unbildung ist nicht trinkbar – und sie gebiert gewiß mit Leichtigkeit blut- und seelenlose Frösche (2 Mos. 8, 6), die einen seltsamen und rauhen Klang, eine Qual für das Gehör, ertönen lassen. 260 Es heißt aber, daß darin auch alle Fische zugrunde gingen (2 Mos. 7, 21); das sind, symbolisch ausgedrückt, die Gedanken. Diese nämlich schwimmen und werden geboren in der Rede wie in einem Flusse, lebenden Wesen gleichend und sie beseelend. In einer ungebildeten Rede aber sind die Gedanken gestorben; denn nichts Verständliches ist da zu finden, sondern nur, wie ein Dichter[1] sagt, des Geschreis unordentliche und endlos geschwätzige Klänge.


  1. Homer, Il. II 212.
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Philon: Über die Träume (De somnis) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSomnGermanAdler.djvu/108&oldid=- (Version vom 6.1.2019)