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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Was Noah, nüchtern geworden, segnet und verflucht.

[392 M.] [1] 1 Was der Gesetzgeber über die Trunkenheit und die ihr folgende Entblößung sagt, haben wir vorher ausführlich besprochen;[1] nun wollen wir damit beginnen, dem Gesagten die folgende Erläuterung hinzuzufügen; es ist nämlich noch die folgende Stelle in der heiligen Schrift übrig, die da lautet: „Und Noah wurde wieder nüchtern von dem Weine und erkannte, was ihm sein jüngerer Sohn getan hatte“ (1 Mos. 9, 24). 2 Das nüchterne Leben ist, wie allgemein anerkannt ist, nicht nur den Seelen, sondern auch den Körpern sehr nützlich; denn es hält (vom Körper) die Krankheiten fern, welche aus maßloser Völlerei entstehen, schärft die Sinne zur höchsten Schärfe und läßt den ganzen Leib nicht schwer werden und fallen, sondern hebt ihn empor, macht ihn leicht beweglich und ruft ihn zu der ihm gemäßen Betätigung auf, indem es in allen seinen Teilen Bereitschaft erzeugt; und kurz und gut: so viel Übel die Trunkenheit hervorbringt, so viel Güter hingegen die Nüchternheit. 3 Wenn nun schon dem Leibe, welchem das Weintrinken gemäß ist, die Nüchternheit so förderlich ist, um wieviel mehr erst der Seele, der jede vergängliche Nahrung fremd ist? Denn was kann es bei den Menschen Großartigeres geben als eine nüchtern besonnene Seele? Welcher Ruhm (ist größer)? Welcher Reichtum? Welche Macht? Welche Kraft? Was von all dem, das bewundert wird?[2] Laß nur das Auge der Seele ganz die Kraft gewinnen, sich völlig zu öffnen, und in keinem Teile mehr wie durch einen Fluß[3] getrübt werden oder sich schließen; dann nämlich wird es die größte Sehschärfe erlangen, wird den Verstand selbst und die Einsicht selbst[4] anblicken und wird den geistigen [393 M.] Bildern begegnen, deren Schau es anlocken und zu keinem Dinge der Sinnenwelt fürder hinneigen


  1. Dieser Teil, welcher nach der εὐθυμία die γυμνότης behandelte, war in Philos Disposition Ü. d. Trunkenh. § 4 vorgesehen, ist uns aber nicht erhalten. Diese beiden Punkte waren in dem verloren gegangenen Teile des 2. λόγος περὶ μέθης behandelt. Darüber vgl. die Einleitung zur Schrift: Ü. d. Trunkenh. S. 1.
  2. In stoischer Manier stellt Philo der richtigen διάθεσις der Seele, welche die ἀρετή bedeutet, äußere Güter als belanglos (ἀδιάφορα) gegenüber.
  3. ῥεῦμα bezeichnet das Triefen des Auges, den Fluß des Triefäugigen. οἷα (wie) schränkt den Vergleich deshalb ein, weil hier vom Auge der Seele die Rede ist.
  4. Unter σύνεσις αὐτή und φρόνησις αὐτή sind die Ideen der σύνεσις und φρόνησις zu verstehen, die im folgenden ἀγάλματα genannt sind.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/4&oldid=- (Version vom 5.7.2016)