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Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler

Kräfte der Seele, welche auf Tugend oder Laster Rücksicht nehmen, wie gesagt, durch den Mangel an Gelegenheit erlöscht, beschert ihnen aber ein günstiger Zufall eine solche, wieder entflammt. [10] 44 Weswegen habe ich dies denn besprochen, als um zu zeigen, daß der Sohn Noahs Cham der Name des stillstehenden Lasters ist, der Enkel aber eines solchen, das sich bereits in Bewegung befindet? Denn übersetzt heißt Cham Hitze, Chanaan aber Schwanken.[1] 45 Die Hitze bringt im Körper Fieber zum Vorschein, in der Seele aber Laster; so wie nämlich ein Fieberanfall nach meiner Meinung eine Krankheit nicht etwa eines Teiles, sondern des ganzen Körpers ist, so ist das Laster ein Schwächezustand der ganzen Seele.[2] Aber zuweilen steht es stille, zuweilen ist es in Bewegung; seine Bewegung nennt (die hl. Schrift) Schwanken, was in der Sprache der Hebräer Chanaan heißt. 46 Von den Gesetzgebern setzt keiner eine Buße fest für die Ungerechten, solange sie sich ruhig verhalten, sondern selbstverständlich erst, wenn sie sich rühren und ihrer Ungerechtigkeit entsprechende Taten ausführen, wie auch kein billig denkender Mann ein beißendes Tier wird töten wollen, wenn es nicht auf dem Sprunge steht, zu beißen; denn die Rohheit der Seele, die ihrer Natur nach gegen alles wütet, muß man von der Erörterung ausschließen.[3] 47 Mit Fug und Recht wird also der Gerechte den Fluch gegen seinen Enkel Chanaan auszusprechen scheinen. „Scheinen“, sagte ich, weil er der Wirkung nach durch dessen Person eigentlich seinem Sohne Cham flucht; denn in dem Augenblicke, da Cham sich zur Sünde hinbewegt, wird er selbst Chanaan. Denn es ist ein und dasselbe, was zugrunde liegt, die Lasterhaftigkeit, nur wird sie einmal in Ruhe, das andere Mal in Bewegung betrachtet; älter aber als die Bewegung ist die Ruhe, so daß sich das Bewegte zu dem Ruhenden im Verhältnis eines Nachkommens[4] befindet. 48 Deshalb wird auch den Tatsachen der Natur entsprechend Chanaan als Sohn des Cham bezeichnet, das Schwanken (als Sohn) des Stillstandes, damit (die hl. Schrift) auch [400 M.] das an anderer Stelle Gesagte als wahr erweise, die Worte nämlich: „Er ahndet die Sünden der Väter an den Söhnen, am dritten und am vierten


  1. [חָם‎ = חֹםWärme, כנען‎ wird mit נועschwanken zusammengebracht, das eine „Bewegung“, wie sie Philo im Auge hat, nicht bedeuten kann. I. H.]
  2. Dieser Parallelismus ist stoisch (Arnim, StVF III 425, 471 usw.), ebenso der Zusammenhang des ἀρρώστημα mit der κακία.
  3. Wendland hat in seiner Ausgabe zu Unrecht die Lesart der Handschriften λόγου geändert; nur sie gibt einen glatten Sinn.
  4. Mit Wendland lese ich ἐκγόνου und § 48 (II 225, 4) ἔκγονα.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Nüchternheit (De sobrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloSobrGermanAdler.djvu/17&oldid=- (Version vom 17.7.2016)